Kite
befinden sich wertvolle Hinweise. Wenn wir unnötig Zeit vertrödeln, sterben noch mehr Menschen, und das geht dann auf unser Konto.«
Er berührte mich am Unterarm, aber ich schüttelte ihn ab.
»Verdammt noch mal, Herb, lass mich gefälligst meine Arbeit machen!«
»Das ist nicht mehr deine Arbeit, Jack. Gib mir das Messer.«
Plötzlich sah ich ein, wie dumm diese Idee war.
»Vielleicht sollten wir doch auf das Bombenentschärfungskommando warten«, sagte ich.
»Lass mich machen.«
»Das ist aber ein ziemlich kleines Messer. Mit deinen Wurstfingern schaffst du das nie.«
»Jack, es geht hier um den ordnungsgemäßen Umgang mit Beweismaterial. Du bist nicht mehr bei der Polizei. Gib mir dasMesser und stell dich hinter die Absperrung, sonst lasse ich dich festnehmen.«
Die Wahrscheinlichkeit, dass Herb das wirklich tun würde, war gleich null. Aber ich kam seiner Aufforderung nach.
Er zwängte seine Hände in ein Paar Gummihandschuhe, kniete neben der blutigen und zerschmetterten Leiche und klappte das Messer auf. Als er die blutverschmierte Luftpolsterfolie aufschnitt, blieb mir fast das Herz stehen. Ich hatte mit einem Taschenbuch gerechnet, wie bei der letzten Leiche, aber diesmal war es keins. Durch die Plastikfolie konnte ich lediglich einen dünnen, grauen Gegenstand erkennen.
Was, wenn ich falsch lag? Was, wenn das doch eine Bombe war?
Herb machte sich weiterhin mit dem Messer an der Verpackung zu schaffen.
Ich wurde immer unruhiger.
Plötzlich hörte ich eine Stimme – die von Phin.
Er schrie meinen Namen.
Ich drehte mich nach ihm um. Er stand hinter dem gelben Absperrband. Ich formte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis – das Okay-Zeichen. Dabei fühlte ich mich alles andere als okay.
Herb durchschnitt das restliche Verpackungsmaterial und nahm den Gegenstand heraus. Er war flach und grau, etwa zwanzig Zentimeter lang und zwölf breit und steckte in einer durchsichtigen Plastikhülle.
Herb stand auf, lief quer durch das Beet und stieg über die Einfassung des Blumenkastens.
Er hielt den Gegenstand hoch, damit ich ihn sehen konnte.
Auf die Plastikhülle hatte jemand mit schwarzem Filzstift geschrieben:
JD – DER IST DIR BUCHSTÄBLICH ZU FÜSSEN GEFALLEN – LK
Als ich sah, was in der Hülle steckte, wunderte ich mich, dass ich nicht schon früher draufgekommen war.
Es war ein Buch. Ein E-Book.
Oder vielmehr ein Kindle-Lesegerät.
»Es ist bloß ein Kindle!«, rief ich den Kriminaltechnikern zu. »Ihr Weicheier könnt wiederkommen.« Dann bat ich Herb, das Gerät so zu halten, dass ich den Bildschirm sehen konnte.
»Was ist das, Jack?«, fragte Herb.
»Ein Lesegerät für E-Books.« Mit dem Fingernagel schob ich durch die Plastikhülle den Einschaltknopf nach links. Das Bild von Emily Dickinson (sie sah dem Zauberer David Copperfield verblüffend ähnlich) verschwand vom Bildschirm und machte einer Seite mit Text Platz.
Am oberen Rand des Bildschirms stand der Titel des Buches:
Blauer Mörder: Thriller
.
Die Statusanzeige am unteren Ende zeigte vier Prozent. Die Seite war oben links mit einem elektronischen Lesezeichen in der Form eines Eselsohrs markiert.
Aus dem Wikipedia-Artikel über Andrew Thomas wusste ich, dass er der Autor war.
Ich holte mein iPhone aus der Handtasche und fotografierte die Seite.
Blauer Mörder: Thriller
Auf dem Heimweg entlang der dunklen und regennassen Straße sah er durch die Bäume das Haus, in dem seine Wohnung lag. Bei dem Gedanken, heute Nacht in dieser trostlosen Bude zu pennen, bekam er Magenkrämpfe. Er hatte sich gut gefühlt, als er ihnen von dem Traum erzählte. Er wünschte, er hätte ihnen alles erzählt. Vor allem von der Angst. Darüber, dass er mitten in der Nacht in dem dunklen Zimmer aufgewacht und im Bett hochgeschreckt war unddabei am ganzen Körper gezittert hatte. Darüber, dass er nicht wusste, warum der harmlose Anblick des kleinen Zeigers, der sich auf die Zwölf zubewegte, ihm so viel Angst einjagte, dass er die Uhr von der Wand in seinem Klassenzimmer entfernt hatte. Darüber, dass er nicht wusste, was an jenem Nachmittag in dieser idyllischen Stadt an der Ecke Oak und Sycamore passieren würde. Man glaubt bei euch nicht, wie viel Blut es kostet.
Als ich den Abschnitt fertig gelesen hatte, runzelte ich die Stirn.
Herb sagte: »Was ist los, Jack?«
»Da ist keine Seitenzahl.«
Er deutete auf die Statusleiste, wo 4 % stand. »Seite vier.«
»Nein, das zeigt nur an, wie viel Prozent von dem
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