Klack: Roman (German Edition)
ich nicht verstand. Das war wohl italienisch.
»Meine Schwester«, sagte er. »Sie heißt Clarissa. Ich soll sofort reinkommen.«
»Ich habe auch eine große Schwester«, sagte ich. »Sie heißt –«
»Lorenzo! Subito!«
Ich dachte mir, dass Lorenzo-Subito wohl ein italienischer Doppelname wie Karl-Heinz oder Horst-Eberhard sein müsse, und sah ihm nach, bis er neben seiner Schwester in der Haustür stand. Sie strich ihm mit einer erwachsenen, geradezu mütterlichen Geste übers Haar und warf mir aus schwarzen Augen einen abweisenden, misstrauischen Blick zu. Oder war das kein Misstrauen, sondern Neugier?
Zwei kleine Italiener, ach ja –
6
Das einzige Foto ohne Legende. Einem Außenstehenden muss es nichtssagend erscheinen, ein missglückter Schnappschuss, bei dem der Auslöser gedrückt wird, bevor das Objekt vor der Linse erschienen oder bereits wieder aus dem Sucher verschwunden ist. Du aber weißt, was das Bild zeigt. Und weil du auch weißt, was es nicht zeigt, überkommt dich ein Echo der Beschämung, die du damals empfunden hast.
Unscharf zu erkennen sind Wäschestücke auf einer Leine, weiße Hemden, dunkle Socken, gestreifte Handtücher, ärmellose Unterhemden. Darüber ein grauer Himmel. Vom rechten, linken und unteren Rand drängen Strauchwerk und Zweige ins Bild, als wollten sie wie ein Paravent den Gegenstand vor zudringlichen Blicken und dem Voyeurismus der Kamera schützen.
Klack.
Der Gegenstand, dem deine Begierde galt, war aber gar nicht da. Deshalb gibt es auch keine Legende, sondern nur eine peinliche Geschichte.
Blechern schepperte der Wecker. Aus der Traum, in dem sie mir übers Haar strich, aber nicht so mütterlich wie ihrem kleinen Bruder, sondern mit einer gierigen Zärtlichkeit. Meine Mutter griff nach meiner Hand und versuchte mich von dieser Berührung wegzureißen, aber ihr fehlte die Kraft, und mein Vater hockte apathisch in einem verschneiten Schützengraben, rauchte eine HB, um nicht in die Luft gehen zu müssen, und blickte starr in die Richtung, aus der gleich die Atombomben fallen würden. Ihre Hand strich mir über Brust und Bauch, bis mir im Halbschlaf dämmerte, dass es meine eigene Hand war, die sich jetzt um meine Erektion schloss, um den Traum im Auf und Ab meiner Phantasie zu erlösen, als –
»Markus! Zehn nach sieben! Du kommst zu spät!« Meine Mutter meinte es ja nur gut mit mir.
Halbsteif schlurfte ich ins Badezimmer, drückte vorm Spiegel an den beiden Pickeln auf meiner Stirn herum, die dadurch erröteten und anschwollen. Zum Frühstück zwei Scheiben Graubrot, eins mit Käse, eins mit Salami. Der Tee war nur noch lauwarm.
Hanna stand bereits vom Tisch auf. »Und tschüss.« Die Streberin kam gern zu früh.
»Nun trödel nicht so herum. Ihr schreibt doch heute eine Lateinarbeit.« Manchmal kannte meine Mutter meinen Stundenplan besser als ich. Leider.
»Aber erst in der zweiten Stunde«, gähnte ich.
»Mach zu, Junge, beeil dich.« Sie stopfte mir die in Papier eingewickelten Pausenbrote in die Schultasche.
Als ich mein Fahrrad aus dem Gartenschuppen holte, sah ich durchs nackte Gesträuch der Beerenbüsche, dass der grün-weiß-rote Eiswagen nicht mehr auf der Straße, sondern im verwilderten Garten hinterm Schandfleck stand. Der Hanomag war nicht mehr da, und von unseren neuen Nachbarn war niemand zu sehen. Musste der Junge nicht in die Schule? Oder ging der noch in den Kindergarten? Und das Mädchen? Auf welche Schule würde sie gehen?
Zwei Minuten vorm Klingelzeichen hechelte ich im Wettlauf mit anderen Verschlafenen auf die massiven Säulen des Portals zu, über denen die in Sandsteinrosetten und Blei gefassten Aulafenster aufragten, sodass die neugotische Backsteinfassade wie eine Mischung aus Kirche und Ritterburg wirkte, hetzte die von Generationen ausgetretenen Stufen hinauf und durch die schwere dunkelbraune Eichenholztür ins Foyer. Geruch nach nasser Kreide, Staub und scharfen Putzmitteln. Im Zwielicht, das hier immer herrschte, dämmerte eine Art Schrein, der in die Wand eingelassen war. Darin ein Gedenkbuch. Pro Seite ein Name. Täglich wurde eine neue Seite aufgeschlagen. Namen ehemaliger Schüler, die in den Kriegen geblieben waren, von der Schulbank eines humanistischen Gymnasiums direkt in den Tod gejagt, bei Mars-la-Tour verheizt, bei Verdun vernichtet, in Stalingrad verreckt. Warum und wieso blieb rätselhaft, weil die Schule, die mir jede Schlachtordnung der Punischen Kriege und jedes Gemetzel des Gallischen Kriegs einpaukte,
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