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Klack: Roman (German Edition)

Klack: Roman (German Edition)

Titel: Klack: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Modick
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sich verstockt ausschwieg, wenn von dem Krieg und seiner Vorgeschichte die Rede hätte sein müssen, den die meisten Lehrer noch selbst erlebt hatten. Unter dem Buch ein dunkelgrüner, matt glänzender Lorbeerkranz. Ob es hier um Heldenverehrung oder Mahnung ging, war unklar und sollte wohl unklar bleiben. Fragen waren unerwünscht. Antworten gab es sowieso keine.
    Beim Klingelzeichen saß ich außer Atem auf meinem Platz. Deutschstunde. Weil der Lehrer mit Nachnamen Hermann hieß, lautete sein Spitzname »der Cherusker«. Vor einer Woche hatte er uns aufgegeben, Gottfried Kellers Kleider machen Leute zu lesen. Ich hatte nur gelangweilt darin geblättert und mich lieber halbherzig auf die drohende Lateinarbeit konzentriert. Offenbar war das den meisten meiner Mitschüler ähnlich gegangen, denn als der Cherusker fragte, was uns der Dichter mit seiner herrlichen Novelle sagen wolle, meldete sich niemand außer Harald Deters, dem Schleimer vom Dienst. Er sagte wie immer, was der Cherusker hören wollte, und wurde dafür gelobt. Manche gähnten, andere blätterten unter der Bank nervös in ihren lateinischen Vokabelheften, um dem drohenden Unheil auf den letzten Drücker noch etwas entgegenzusetzen. Der Cherusker lobte Deters für sein Gesülze, das wahrscheinlich aus Königs Erläuterungen der Klassiker stammte, wies uns an, den Text auf einer bestimmten Seite aufzuschlagen, und forderte einen Schüler zum Vorlesen auf.
    »Zweiter Absatz. Die Stelle, die mit ei ei ei ei beginnt und –«
    Grinsen. Unterdrücktes Gelächter.
    »Seien Sie nicht so albern. Also los, lesen Sie vor.«
    »Ei ei ei ei!«
    Befreites Gelächter.
    »Wie betonen Sie das denn, Menschenskind! Es geht hier doch nicht um Hühnereier. Hören Sie zu. So ist es gemeint: Ei ei ei ei«, deklamierte der Cherusker schelmisch wie ein Schmierenkomödiant. »Sieh da den Bruder Schlesier, den Wasserpolacken! Der mir aus der Arbeit gelaufen ist, weil er wegen einer kleinen Geschäftsschwankung glaubte, es sei zu Ende mit mir –«
    Ich war beim Suchen nach der Stelle versehentlich auf einer anderen Seite gelandet, und während der Cherusker immer selbstverliebter Gottfried Keller spielte, stolperte ich über einen Satz, der mich festhielt. »Er bedeckte ihre glühenden Wangen mit seinen fein duftenden Locken, und sein Mantel umschlug die schlanke, stolze, schneeweiße Gestalt des Mädchens wie mit schwarzen Adlerflügeln, und er verlor in diesem Abenteuer seinen Verstand und gewann das Glück, das öfters den Unverständigen hold ist.« Der Satz umarmte mich, schien mir durchs Haar zu streichen, zärtlich und begierig zugleich, und die schlanke, stolze, schneeweiße Gestalt verwandelte sich in ein Mädchen mit olivfarbener Haut, schwarzen Haaren und einem engen roten Pulli, ein Mädchen wie aus einem Märchen oder Traum, das ich mit den Adlerflügeln meines Anoraks umschlang. Und wenn das Glück den Unverständigen öfters hold war, würde es auch mir –
    »Sie haben ja die falsche Seite aufgeschlagen!« Der Cherusker sah mir kopfschüttelnd über die Schulter. »Na, immerhin ist es der richtige Text. Was glauben Sie eigentlich, warum ich Ihnen diesen Text für heute aufgegeben habe? Na?«
    Niemand meldete sich, nicht einmal Deters. Alle sehnten sich nach der Pausenklingel.
    »Was für ein Landsmann ist denn der Schneider?«, bohrte der Cherusker weiter.
    »Ein Schlesier.«
    »Sehr gut, Deters. Und was passiert heute in der fünften Stunde?«
    »Da singt ein Chor in der Aula.«
    »Richtig. Und woher kommt dieser Chor?«
    Schweigen. Ahnungslosigkeit. Desinteresse.
    »Aus Schlesien, meine Herren. Und warum? Na? Niemand? Weil wir wie jedes Jahr die Woche der Heimatvertriebenen begehen und –«
    Die Klingel. Endlich.
    »Wir kommen übermorgen darauf zurück«, sagte der Cherusker. »Das Chorkonzert ist übrigens Pflicht. Dass mir niemand schwänzt!«
    »Wir schwänzen doch nicht«, sagte Rudi Wiechers, bewegte die geschlossene Faust auf und ab und grinste richtig schön dreckig, während wir uns am Rand des Schulhofs zu den Rauchern gesellten, die im Sichtschutz der Fahrradschuppen ihrem verbotenen Laster frönten.
    »Fluppe?« Rudi hielt mir eine halb volle Schachtel Overstolz hin, die er seinem Vater unbemerkt aus der Tasche gezogen hatte. Overstolz war hart.
    »Siehst du die Leichen dort im Holz? Das sind die Opfer von Overstolz«, sagte Rudi.
    »Habt ihr schon gehört?«, sagte Detlef Harms, dessen Eltern am Markt ein Schuhgeschäft hatten. »Krögers

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