Klack: Roman (German Edition)
Mädchen trugen gelbe Dirndl und weiße Schürzen, die Jungen blaue Bundhosen und gelbe Westen. Den Rücken zum Publikum, das Gesicht zum Chor, schlug der grauhaarige Chorleiter im schwarzen Anzug auf dem Flügel einen Ton an und hob wie segnend die Arme. Dann schmetterten sie los.
Wackre Männer, treu und bieder,
trotzig wie der Teufelsbart,
ros’ge Frau’n im bunten Mieder,
das ist echte Schlesierart.
Die das aus voller Kehle sangen, waren in unserem Alter. In Schlesien geboren war bestenfalls der Chorleiter. Die Trachten waren bescheuert, die meisten Mädchen trotz bunten Mieders graue Mäuse oder dralle Wuchtbrummen, aber zwei oder drei schienen ziemlich dufte Puppen zu sein, besonders die Dritte von links. Wäre ihr schwarzes Haar nicht zu spießigen Zöpfe gebunden gewesen, hätte sie eine gewisse Ähnlichkeit mit Clarissa gehabt. Ach, Clarissa.
Volle Becher fröhlich kreisen
von der Heimat Traubenblut,
Schlesierland, dich will ich preisen,
bis mein Herz in dir einst ruht.
Um nicht vor Lachen loszuplatzen, verzogen wir unsere Gesichter zu schmerzlichen Grimassen und klatschten den verordneten warmen Applaus. Der Chorleiter wandte sich dem Publikum zu, verbeugte sich und kündigte mit öliger Stimme das nächste Lied an, dessen Text vom Freiherrn von Eichendorff stamme, diesem größten aller schlesischen Dichter. Und dann sangen sie vom kühlen Grunde, vom Mühlenrad und der untreuen Liebsten, aber auch von dem Wunsch, als Reiter in die blutige Schlacht zu ziehen und am liebsten sterben zu wollen. Dann war’s auf einmal still. Beifall. Warm wie bestellt, aber schon irgendwie ermattet, gespendet wie eine mildtätige Gabe. Und gleich noch ein Lied. Rudi lehnte schwer an meiner Schulter und schien eingeschlafen zu sein. Und noch ein Lied. Ich wäre auch gern eingedöst, doch der Chor sang zu laut.
Dann trat wieder der Direktor ans Pult, um den Festredner anzukündigen, einen Vertreter vom Bund der Vertriebenen. Wieso Redner? Von Reden war gar keine Rede gewesen, nur von Chorgesang. Und wieso Fest? Was denn für ein Fest? Im Saal entstand missvergnügte Unruhe, die der Direktor mit scharfen Blicken dämpfte.
Der Redner hatte keine Tracht an, sondern einen graublau karierten Anzug mit allerdings schlesisch-gelbweiß gestreifter Krawatte. Er begrüßte uns mit »liebe Jungen und Mädel, liebe junge Deutsche«, und das klang ziemlich unknorke. Dann erzählte er umständlich allerlei aus der Geschichte Schlesiens, dieser ur- und kerndeutschen Provinz, auf deren Schönheit und Reichtum es der Slawe schon seit Menschengedenken abgesehen habe. Mit bebender Stimme beklagte er entsetzliche Gräueltaten der Roten Armee, das himmelschreiende, menschenverachtende Unrecht der Vertreibung und das unendliche Leid der Flucht. Die Rückkehr in die angestammte Heimat sei für jeden echten Deutschen und seine Nachkommen ein verbrieftes Menschen- und Völkerrecht. Öffentliche Erklärungen, die immer wieder aus kommunistisch gesteuerten Kreisen vernehmbar seien und in denen Verzicht auf die deutschen Ostgebiete laut würden, müssten als Landesverrat mit Zuchthaus bestraft werden. Wem das nicht passe, der müsse nach drüben gehen. Er beschloss seine kernige Ansprache mit den Worten: »Bleibt wehrhaft gegen Bolschewismus, Marxismus, Leninismus und Stalinismus, bleibt die wachsame deutsche Jugend. Bleibt stark.« Dann wischte er sich Spucke aus den Mundwinkeln und trat unter spärlichem Beifall beiseite. Zum Finale stimmte der Chor Das Schlesierlied an.
Kehr ich einst zur Heimat wieder
Früh am Morgen, wenn die Sonn’ aufgeht
Schau ich dann ins Tal hernieder
Wo vor einer Tür ein Mädchen steht –
Während das ein paar Strophen lang so dahinging, starrte ich die mit den schwarzen Zöpfen an und dachte an eine andere. Schließlich marschierte der Chor wieder ab, die Reihen fest geschlossen, und auch wir waren endlich entlassen. An der Aulatür standen ein Chormädchen und ein Chorknabe Spalier und drückten jedem von uns eine Anstecknadel in die Hand: das Brandenburger Tor mit der Unterzeile Macht das Tor auf!
Auf dem Nachhauseweg plagte mich ein lästiger Ohrwurm: Wo vor einer Tür ein Mädchen steht – doch meine Hoffnung erfüllte sich nicht. Vor der Tür des Schandflecks wartete niemand auf mich, nicht einmal der kleine Bruder. Immerhin stand der bunte Wagen noch im Garten.
Zum Mittagessen gab’s Königsberger Klopse mit Kapernsoße und Kohlrabi. Die Klopse mochte ich gern, die Kapern reihte ich am Tellerrand
Weitere Kostenlose Bücher