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Klack: Roman (German Edition)

Klack: Roman (German Edition)

Titel: Klack: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Modick
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den Atomangriff der Russen. Auch die Birnen vom westlichen Geäst des Birnbaums hatten wir beizeiten gepflückt und in Gläser eingeweckt, die mit Aufklebern versehen waren.
    Beim Beschriften hatte Hanna auf zwei oder drei Gläser nicht Ernte 1961 geschrieben, sondern Ernte 23. Unsere Mutter hatte das erst nur für ein Versehen gehalten, aber als ihr der Witz dämmerte, hatte sie Hanna am Pferdeschwanz gezogen und gesagt: »Mädchen, Mädchen, rauchst du etwa schon?«
    Da hätte ich sie übrigens verpetzen können, tat es aber nicht, weil ich mir manchmal eine Zigarette aus dem Geheimversteck in ihrer Kommode stibitzte, wo sie unter Socken und Pullis auch ein noch viel, viel geheimeres Tagebuch aufbewahrte. Allerdings paffte sie heimlich nicht Ernte 23, sondern Peter Stuyvesant. Die hatten nämlich den Duft der großen weiten Welt .
    Seit Schulenbergs Auszug aus dem Schandfleck war die Beerenhecke in Richtung Osten nicht mehr abgeerntet worden und begann zu verwildern. Auch die Birnen blieben ungepflückt, fielen überreif auf den ungemähten, von Unkraut überwucherten Rasen oder knallten aufs Flachdach. Derlei Verschwendung von Gottesgaben, sagte Oma, breche ihr das Herz. Und wenn meine Mutter die Birnen aufs Dach knallen hörte, zuckte sie jedes Mal zusammen. Wie im Krieg sei das. Wie in den Bombennächten. Während ich die Dessertschälchen abtrocknete, »Vorsicht, Kristall«, fixierte ich eine der wenigen Birnen, die noch am Baum hingen. Sie wirkten so schwer und überfällig, dass ich mir sicher war, sie allein durch meinen durchdringenden Blick zum Fallen bringen zu können, und war enttäuscht, als das misslang.
    Und genau in diesem Moment bog in unsere Straße ein blauer Hanomag Kurier ein, im Schlepp einen Bauwagen, der wie eine Holzbaracke auf Rädern aussah. Solche Dinger standen als Pausenbuden oder Klos auf Bauplätzen, aber die Schausteller vom Ostermarkt oder Zirkusleute benutzten sie auch als Wohnwagen. Die senkrechten Planken waren abwechselnd grün, weiß und rot gestrichen, das Tonnendach mit grauer Teerpappe gedeckt wie das Dach des Schandflecks. Und vorm rostigen Gartentor des Schandflecks kam das Gespann zum Stehen. Aus der Fahrerkabine des Hanomags, dessen Kühlergrill wie ein breit grinsendes Fischmaul aussah, stieg ein Mann und ging um den Bauwagen herum, der jetzt den Blick auf den Hauseingang versperrte.
    »Ich glaube, nebenan zieht jemand ein«, sagte ich.
    Meine Mutter trat neben mich ans Fenster, kniff die Augen zusammen und raffte den Store beiseite, um besser sehen zu können. »Herrje«, sagte sie, »was ist denn das für eine Kasperbude? Sind das etwa – hast du jemanden gesehen?«
    »Nur einen Mann, der –«
    »Das sind ja Zigeuner!«, flüsterte meine Mutter, und wenn sie die Gewohnheit gehabt hätte, vor Entsetzen die Hände überm Kopf zusammenzuschlagen, hätte sie das jetzt wohl getan. Dass manche Menschen vor Schreck die Hände überm Kopf zusammenschlagen, hatte ich schon öfter gelesen, zum Beispiel bei Karl May, aber im wirklichen Leben kam derlei offenbar gar nicht vor. Wie es aussehen musste, wenn Leute die Hände ringen, wusste ich ebenso wenig. Leider rang meine Mutter auch nicht die Hände.
    »Wieso Zigeuner?«, sagte ich.
    »Der Wagen! Fehlt nur noch, dass der von Eseln gezogen wird. Oder vom Pferd. Wie beim alten Hermann.«
    Wie beim alten Hermann war keine Redensart vom Schlage wie im alten Rom, wie bei Kaiser Wilhelm oder wie beim Gröfaz, sondern bezog sich auf den Schrotthändler Hermann Menken, der vor einigen Jahren steinalt gestorben war. Begleitet von seinem ebenso starken wie schwachsinnigen Sohn, war er mit seinem von einem müden Gaul gezogenen Wagen über die Straßen geklappert. Durchs scharfe Knallen der Hufe auf dem Blaubasaltpflaster sang er dann seine Litanei: Lumpen, Alteisen, Papier, Glas!
    Onkel Fritz behauptete, bis Kriegsende hätte Hermann neben Glas, Papier, Alteisen und Lumpen auch noch Knochen im Repertoire gehabt, aber Knochen zu sammeln sei heutzutage wohl sogar dem alten Zausel zu makaber; nach alledem und so weiter. Ich war damals fünf oder sechs Jahre alt, und als ich Onkel Fritz fragte, was makaber sei und wie er das meinte mit trotz alledem und so, schüttelte er den Kopf und sagte leise, das würde ich noch früh genug erfahren.
    Wenn der alte Hermann Glück hatte, landete manchmal Gerümpel aus Kellern und Dachböden auf seinem Wagen, und wenn wir Glück hatten, ließ sein Pferd vor unserem Haus ein paar Äpfel fallen. Die

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