Klack: Roman (German Edition)
Vater wohl auch so, mit der rauchenden Waffe in der Hand, in Staub und Schnee gewälzt hatte? Davon erzählte er nie etwas.
Vor mir waren nur noch fünf oder sechs Leute in der Schlange, als mich jemand seitlich am Arm zupfte. Ich drehte mich um. Enzo. Der kleine Italiener von nebenan. Lorenzo. Lorenzo-Subito.
Er strahlte mich von unten an. »Hallo Markus.«
»Oh, hallo, ähm – Enzo, nicht wahr?«
Er nickte. »Gehst du auch ins Kino?«
»Ja klar. Und du? Bist du etwa ganz alleine hier?«
»Nein, nein. Mit Clarissa. Sie steht da hinten in der Schlange. Sie hat gesagt, dass ich schon mal Gummibärchen kaufen soll.«
Ich verrenkte mir den Hals, konnte Clarissa aber nicht sehen. Wahrscheinlich stand sie noch draußen vorm Eingang.
»Guckst du dir auch Pongo und Perdi an?«
Ich lächelte halb überlegen, halb nachsichtig. »Natürlich nicht. Ich gehe in Die glorreichen –« Aber ich sprach den Satz nicht zu Ende, weil mich die Vorstellung, neben Clarissa in einem dunklen Kinosaal zu sitzen, wie der Blitz aus heiterem Himmel traf. Na schön, der Lütte würde dabei sein, aber trotzdem. Neben ihr! Im Dunklen! Die Knie wurden mir weich, der Penis hart.
»He, junger Mann«, sagte eine Dame hinter mir und tippte mir auf die Schulter. »Wollen Sie hier Wurzeln schlagen? Sie sind dran.«
Die Kartenverkäuferin sah mich hinter der Glasscheibe fragend an. »Bitte?«
»Ein Mal Die glorreichen – Pongo und Perdi.«
»Was denn jetzt?«, sagte sie ungeduldig.
»Pongo«, sagte ich so leise, dass es außer ihr niemand hören konnte, und legte eine Mark fünfzig auf den Tresen.
Die Verkäuferin schob mir mit der Karte das 50-Pfennig-Stück zurück. »Kindervorstellung kostet nur eine Mark«, sagte sie so laut und deutlich, dass man es bis ans Ende der Schlange hören musste.
Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss. Am liebsten hätte ich mich noch kleiner gemacht als der kleine Enzo. Oder unsichtbar. Ich starrte die Karte an. Im Wallstudio waren die Plätze nicht nummeriert.
»Einheitspreis«, sagte die Platzanweiserin, »freie Auswahl«, und riss meine Karte ab.
Im Saal drückte ich mich ganz hinten an der Wand herum und wartete auf Clarissa und Enzo. Vor Aufregung schwitzte ich. Dann kamen sie herein und setzten sich vorn in die zweite Reihe, in der sonst noch niemand saß, und außer Kleinkindern wollte auch niemand freiwillig im Rasiersitz sitzen. Ich wischte mir die feuchten Hände an der Hose ab, schob mich von links in die Reihe, weil Enzo rechts von Clarissa saß.
»Ist der Platz noch frei?«, fragte ich mit belegter Stimme, und als sie mich ansah und nickte, sagte ich: »Ach, das ist aber eine Überraschung.«
»Guten Tag«, sagte sie lächelnd. Überrascht schien sie nicht zu sein; wahrscheinlich hatte Enzo ihr gesagt, dass er mich gesehen hatte. Ihr Lächeln war nicht abweisend, eher etwas abwesend, nahezu geheimnisvoll. War das womöglich ein Lächeln, das man unergründlich nannte?
Enzo beugte sich über ihren Schoß in meine Richtung und hielt mir die Tüte mit Gummibärchen hin. »Willst du welche?«
»Nein, danke.« Aber weil ich beim Zugreifen Clarissa unauffällig berühren müsste, korrigierte ich mich hastig. »Ich meine, ja, gern«, fingerte in der Tüte herum, berührte dabei ihre Schulter und steckte mir ein Gummibärchen in den Mund.
»Willst du dir denn nicht den Wildwestfilm angucken?«, fragte Enzo.
Clarissa drehte mir ihr Gesicht zu und musterte mich. Fragend? Misstrauisch? Spöttisch?
Ich tat, als hätte ich mich verschluckt, hustete. Zum Glück ertönte in diesem Moment der Gong, und der rote Vorhang vor der Leinwand wurde aufgezogen.
Mit Reklame ging es los, zumeist Standbilder. Persil – aus Liebe zur Wäsche. Wenn einem so viel Gutes widerfährt, das ist schon einen Asbach Uralt wert. Jacobs Kaffee … wunderbar, in jeder Weise vollkommen. Dann kam aber in bewegten Bildern das HB-Männchen und ging beim Versuch, einen Reifen zu wechseln, in die Luft. Im Kino wurde gelacht. Auch Clarissa und Enzo lachten.
Ich tippte Clarissa mit der Fingerspitze auf den Unterarm. Sie zuckte nicht zusammen und rückte auch nicht von mir ab. »Ist das nicht witzig? So ein Zeichentrickfilm?«
Immer noch lachend sah sie mich an, sagte aber nichts. Was sollte sie auf eine derart bescheuerte Frage auch sagen?
Ich schwitzte heftiger und heuchelte seriöses Interesse an Fox’ Tönende Wochenschau. Verglichen mit der Tagesschau war es mit der Aktualität der Wochenschau nicht mehr weit
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