Klack: Roman (German Edition)
in der ich mich an C-Dur, G-7 und F-Dur versucht hatte, ergab sich eine Situation, in der ich für einige Minuten mit ihr allein in der Küche saß. Wir sahen uns fragend an, wandten dann aber beide den Blick schnell wieder ab, als hätten wir uns gegenseitig bei etwas Verbotenem ertappt. Sie stand auf, ging an die Spüle und hielt Gläser unter den Wasserhahn, obwohl die Gläser bereits abgespült waren.
Zitternd vor Aufregung zupfte ich an den Strohblumen auf dem Tisch herum, wusste genau, was ich sie fragen wollte, wusste aber nicht, wie ich sie fragen sollte, nahm meinen Mut zusammen und holte tief Luft. »Willst du mit mir auf den Barfuß-Ball gehen?« Die Worte fielen wie Kieselsteine auf den Tisch.
Sie gab erst keine Antwort, drehte sich auch nicht zu mir um, wischte das Glas in ihrer Hand mit einem Tuch aus. »Barfuß-Ball?«, sagte sie schließlich. »Was ist das?«
Ich erklärte es ihr hastig. Dabei nickte sie vor sich hin, als wollte sie zustimmen, flüsterte dann aber: »Das erlaubt mein Vater nicht.«
Und wie zur Bekräftigung ihrer Worte erschien einen Moment später, während ich noch nach einer Antwort suchte, nach einem Widerspruch, Herr Tinotti wie ein leibhaftiges Nein in der Küche. Abgewiesen, niedergeschlagen, vernichtet klemmte ich mir die Gitarre unter den Arm und zog Leine.
Um mein Elend vollkommen zu machen, erspähte mich meine Mutter durchs Küchenfenster, als ich aus dem Schandfleck schlich. Was um alles in der Welt ich dort zu suchen hätte? Gitarrenunterricht? Bei diesen Leuten? Das sei ja wohl die Höhe! Von Gesindel wolle sie zwar nicht reden, aber in der Nachbarschaft werde schon so allerlei gemunkelt. Ob ich etwa diesem Flittchen auf den Leim gegangen sei? Gitarrenunterricht? Mit der? Bei denen? So weit komme das noch. Gegen Gitarrenunterricht sei im Prinzip nichts einzuwenden, trotz Omas schwerer Bedenken. Aber dann bitte, wie es sich gehöre, in der Jugendmusikschule, Gruppenunterricht mit ordentlicher Anmeldung. »Nach drüben«, sie deutete über den Zaun, »gehst du mir nie wieder. Hast du mich verstanden?«
Ich hasste meine Mutter. Ich hasste meinen Vater. Ich hasste Oma. Hanna hasste ich sowieso, weil sie meine große Schwester war und Dinge durfte, die mir verboten waren. Um die Welt meinen Hass spüren zu lassen, verzog ich mich ohne Abendessen auf mein Zimmer, griff zur Gitarre, spielte die drei Akkorde von Marina und heulte dazu so laut es ging »O nononono no, o nononono no!«. Jugendmusikschule war ja wohl das Allerletzte! Warum nicht gleich Blockflöte, Triangel oder Kirchenchor? »O nononono no!«
Als sich niemand beschwerte, nicht einmal Oma von unten ans Heizungsrohr klopfte, grübelte ich darüber nach, wie ich meine grausame, spießige Sippe bestrafen konnte. Auswandern? Zu Onkel Fritz nach Mallorca fliehen? Der würde mich natürlich verstehen, aber wohl auch umgehend wieder nach Hause schicken. Behalten würden mich aber vielleicht Tante Grete und Onkel Ernst in Rostock, und meine Eltern wären fassungslos, dass ich zu den Kommunisten übergelaufen wäre. Aber in der Zone verkümmern und auf Weihnachtspakete von zu Hause warten? Kam nicht infrage.
Was also blieb mir noch? Selbstmord? Jawohl. Selbstmord! Erst dann würden sie merken, was sie an mir gehabt hatten. Sie würden heulen und jammern und ihre Worte bereuen, sie würden sich wünschen, dass Clarissa und ich zusammen glücklich geworden wären – aber dann wäre es zu spät, weil ich dann tot sein würde. Wie ließ sich das anstellen? Am Dachbalken neben dem Juchhe erhängen? Erhängen tat wahrscheinlich ziemlich weh und würde eine Weile dauern. Sich auf Bahngleise legen und von der rauchenden, fauchenden Lokomotive überrollen lassen? Dann war man wahrscheinlich Matsch und würde vielleicht gar nicht mehr identifizierbar sein. Mir am Stacheldraht des Grenzzauns zum Schandfleck die Haut ritzen, Dreck in die Wunde reiben und dann als ein Mauertoter der Liebe an Blutvergiftung verrecken? Oder Hungerstreik? Langsam, vor aller Augen, immer weniger werden und elendig dahinsiechen? Keine leichte Entscheidung. Zu bedenken war auch, dass ich als Toter gar nicht mehr die Genugtuung über den Schmerz, die bittere Reue und das schlechte Gewissen meiner Familie auskosten konnte und somit mein Selbstmord seinen Sinn verfehlen würde. Als Toter musste ja auch meine Liebe zu Clarissa unerfüllt bleiben, noch unerfüllter, als sie es bereits war. Vielleicht war es besser, einstweilen auf Selbstmord zu
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