Klack: Roman (German Edition)
verzichten. Vielleicht würden ja auch morgen oder übermorgen die Atombomben fallen, und dann wäre sowieso alles egal. Nur noch Kakerlaken und Silberfischchen.
Clarissas Worte drehten sich in meinem Kopf, aber je länger sie sich drehten, desto freundlicher wollten sie mir vorkommen. »Das erlaubt mein Vater nicht« war ja etwas ganz anderes als ein schlichtes »Nein« oder »Will ich nicht« oder »Hab keine Lust«. »Das erlaubt mein Vater nicht« konnte im Grunde nur heißen: »Ja, mein Geliebter, wie gern würde ich mit dir kommen, wenn ich nur dürfte.« Oder schob sie ihren Vater vor, um mir einen Korb geben zu können? Raffiniertes Flittchen!
So konnte es auch nicht mehr weitergehen, weil ich ihr nicht näherkam, keinen Millimeter. Ein paarmal schüchtern berührt, ha, aber noch kein einziger Kuss. Da hatte ich in der Tanzstunde schon größere Erfolge, engere Umarmungen, geradezu intime Erfahrungen gesammelt, und von den Mädchen aus der Tanzstunde würden einige garantiert auf dem Barfuß-Ball erscheinen. Wieso verschwendete ich meine Zeit mit Clarissa? Mädchen gab es genug. Sie warteten nur auf mich.
Aber ach, sie warteten nicht. Auf dem Barfuß-Ball musste ich verbittert feststellen, dass meine Tanzstundendamen von deutlich älteren Herren umschwärmt wurden, von A-Jugendlichen und Abiturienten. Meine Abtanzdame Isabelle ignorierte mich blasiert und gezielt, die drahtige Doris gab mir einen Korb, als ich sie zum Foxtrott aufforderte, und Brillenschlangen und Mauerblümchen wie die dicke Ulla waren unter meinem Niveau. Mädchen, die jünger als ich waren und zu mir hätten aufblicken können, gab es nicht.
Ich stand mit einer Sinalco in der Hand am Rand der Tanzfläche, nuckelte am Strohhalm und hörte missgelaunt der Kapelle zu. Fünf ältere Herren in weinroten Samtanzügen mit Rüschenhemden und reichlich Pomade in den Halbglatzen spulten routiniert ein Repertoire aus abgestandenen Schlagern wie Tanze mit mir in den Morgen, tanze mit mir in das Glück und öder Tanzmusik à la Elisabethserenade herunter. Kein Elvis, kein Del Shannon, kein Chuck Berry, kein Buddy Holly, nicht einmal Peter Kraus oder Ted Herold, und trotzdem wurde getanzt, dass die Socken qualmten.
Als die Combo Am Sonntag will mein Süßer mit mir Segeln gehen anstimmte, sah ich mitten im Getümmel Hanna. Sie tanzte mit Zorro – schwarze Hose, schwarzes Hemd, schwarze Augenmaske, aber der akkurate Bartstreifen um sein Kinn verriet mir, dass Zorro in Wirklichkeit Monsieur Lemartin aus Straßburg beziehungsweise aus dem Juchhe war. Na sieh mal einer an! War das etwa bloß Nachbarschaftspflege, bloß platonische, deutsch-französische Freundschaft? Hannas Boyfriend Dieter Bernholz war nirgends zu sehen, und der französische Schulemissär schäkerte mit Hanna so hemmungslos herum, als sei sie inzwischen seine Flamme. Und Hanna schien sich köstlich zu amüsieren. Zu blöd, dass ich meinen Fotoapparat nicht dabeihatte.
Bevor ich noch länger darüber nachdenken konnte, sah ich plötzlich – aber das war doch unmöglich! – einen im Cha-Cha-Cha-Rhythmus auf und ab wippenden schwarzen Zopf, an dessen Ende eine rote Schleife baumelte. Clarissa? Tanzende Paare versperrten mir die Sicht. Ich stieg auf einen der an der Hallenwand aufgereihten Turnkästen, ließ den Blick übers Gewoge der Tanzfläche schweifen, suchte mit pochendem Herzen nach einem schwarzen Zopf mit roter Schleife und allem, was dazugehören musste. Clarissa! Kein Zweifel! Schwarzes, kurzärmeliges, hoch geschlossenes Kleid mit bravem weißem Kragen. Clarissa! Wie war das möglich? Tanzte Cha-Cha-Cha mit einem Kerl, den ich nicht kannte und der mindestens drei Jahre älter war als ich. »Das erlaubt mein Vater nicht« war also eine Ausrede gewesen, eine miese, kleine Lüge, um mich abzuwimmeln.
Auf dem Turnkasten überkam mich plötzlich Schwindelgefühl, als stünde ich auf einem Kirchturm. Eine unsichtbare Kraft zog mich abwärts. Ich stürzte, raste dem Boden entgegen, würde zerschmettert liegen bleiben, öffnete die Augen, stieg vom Kasten und setzte mich darauf. Was für ein Luder! Erbärmliches Flittchen! Hatte ich mich nicht für sie mit Detlef Harms blutig geprügelt? Hatte ich aus Liebe zu ihr nicht stundenlang alte Farbe von den Wänden gekratzt? Mir mit Do, Re, Mi die Finger verrenkt? Hatte ich wegen ihr nicht dem Selbstmord ins Auge geschaut? Dem Atomkrieg gar? Und sie? Tanzte Cha-Cha-Cha mit so einem Lackaffen. Vermutlich hatte der schon ein eigenes
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