Klack: Roman (German Edition)
Mir fiel keins ein.
Herr Tinotti zupfte ein paar Töne auf seiner Gitarre, lächelte Clarissa zu, und sie begann zu singen, leise erst, kindlich, wie nach Ausdruck suchend, dann jedoch fast feierlich und bestimmt, als ob sie mich auf etwas Sonderbares aufmerksam machen, als ob sie mir etwas Wichtiges mitteilen wollte. Beim Refrain wurde ihre Stimme dumpfer, wie verdüstert, geheimnisvoll – eine unwiderstehliche Sehnsucht, die bald bittend und dringend, bald treibend und fordernd klang. Sie hatte als Kind zu singen begonnen, aber mit jedem Ton schien sie erwachsener und reifer zu werden. Ich verstand kein einziges Wort, hatte aber das Gefühl, dass jedes einzelne mir galt, weil es aus Clarissas Mund kam. Sie endete mit einem lang ausgehaltenen A, dem ihr Vater noch ein paar Zupfer nachschickte, und sah mir in die Augen. Streng? Tief?
»Kennst du das Lied?«
Ich schüttelte den Kopf. »Es ist wohl italienisch?«
»Ja, natürlich italienisch«, sagte sie, »was dachtest du denn?«
»Nichts.«
»Willst du es lernen?«
Ihr Vater lachte. Das Lied sei für einen Anfänger zu schwer. Ich könne ja noch nicht einmal einen Akkord greifen. »Guckst du hier«, sagte er und zeigte mit der rechten Hand auf die Finger seiner linken, die auf dem Griffbrett lagen. »Machst du nach. Ist so.«
»So ist G«, sagte Clarissa.
Ich setzte meine Gitarre so aufs Knie und die Finger so aufs Brett, wie er es vormachte.
»Mit Daumen streichen«, sagte er und strich mit dem Daumen über die Saiten.
Ich machte es nach. Es klang schräg.
Er nahm mir die Gitarre aus der Hand, stimmte sie und gab sie mir wieder zurück. »Ancora«, sagte er.
Es klang noch schräger.
»Dein Zeigefinger«, sagte Clarissa, beugte sich vor und drückte meinen Zeigefinger energisch und sanft zugleich an die richtige Stelle.
Die Berührung jagte mir Schauer über Brust, Bauch und Rücken. Es war das erste Mal, dass sie mich berührte. Ich hatte es schon zweimal getan, einmal im Kino und dann noch einmal vor der Landkarte, als sie mir Fasano gezeigt hatte. So einfach war das also. Ich musste nur die Finger dorthin setzen, wo sie nicht hingehörten.
»Jetzt streich mal«, sagte sie.
Mein Daumen glitt zaghaft und zittrig über die Saiten. Es klang irgendwie richtig.
»Bravo«, sagte Herr Tinotti. »Und jetzt so.« Er griff einen anderen Akkord und schlug ihn an. »Re.«
»Re ist D«, sagte Clarissa und half meinen tastenden Fingern noch einmal, ihr Ziel zu finden. Ich spürte ihren Atem an meinem Ohr, strich über die Saiten, als wären sie ihr Schlangenzopf.
»Bene, ancora so.« Er griff wieder auf G um.
Meine Finger stolperten übers Griffbrett, aber diesmal half Clarissa mir nicht. »Sieh Papa zu. So.«
Nachdem ich es einige Male versucht hatte, traf ich die Saiten richtig. Herr Tinotti nickte anerkennend und sagte, ich solle diesen Wechsel immer wieder zu Hause üben, bis ich ihn »a memoria« könne. »Come se dice a memoria?«
»Auswendig«, sagte Clarissa.
So. Re. A memoria, sagte ich zu mir selbst. So. Re. A memoria. Das klang fast wie ein Lied.
»Ist leicht«, sagte Herr Tinotti, und um mir zu beweisen, wie einfach das alles war, spielte er jetzt schmissig mit So und Re und einem dritten Akkord und pfiff dazu. Es war die Melodie von Marina. Ich erschrak. Konnte er meine Gedanken lesen? Die zauberhafte, kleine Ballerina summte mit. Wunderbares Mädchen, bald sind wir ein Pärchen. Wenn er meine Gedanken lesen konnte, wusste er, dass ich gleich eine Erektion bekäme. Um Gottes willen. Blut schoss mir ins Gesicht.
»Das kenne ich«, murmelte ich mit trockenem Mund und griff zum Senfglas mit Wasser und Wein.
»Canzoncina italiana«, sagte er.
»Das gibt es auch auf Deutsch.«
»So ist es aber schöner«, sagte Clarissa.
So. Re. Clarissa, Clarissa, Clarissa, du bist ja die Schönste der Welt. A memoria. Komm lass mich nie alleine, o nononono no. So. Re. A memoria.
Aus dem Wohnzimmer drangen Gelächter und Geplauder meiner Eltern und ihrer Gäste. Der Halstuchmörder musste inzwischen entlarvt und verhaftet worden sein, aber er interessierte mich nicht. Ich lag im Bett und drückte mir die Finger der linken Hand aufs rechte Handgelenk, als sei es ein Gitarrenhals, So und Re, Re und So, a memoria, spürte Clarissas Berührung und den Duft ihres Atems an meinem Ohr. Und wie ich fragte, Liebling, willst du mein sein? Gab sie mir einen Kuss und das hieß: Ja! Dies Ja hallte nach wie das lang ausgehaltene A des Lieds, das sie für mich gesungen
Weitere Kostenlose Bücher