Klack: Roman (German Edition)
und die Stalinorgeln pfiffen. Am schlimmsten beleidigt habe aber ihn und die ganze Wehrmacht General Paulus, ein Drecksack, dem nicht in den Arsch getreten zu haben er sich bis heute nicht verzeihen könne. Erst habe der Stalingrad versaut, sei dann zu den Kommunisten übergelaufen und und und –
Während der nächsten Tage ließ ich mich lieber nicht in Tinottis Laden blicken, übte aber hingebungsvoll Re und So. Meine Mutter pflegte mein blaues Auge und die geschwollene Lippe mit Eisbeuteln, und mein Vater schrieb einen Entschuldigungszettel, dass ich wegen einer Sportverletzung dem Unterricht drei Tage fernbleiben müsse. Wie ich später erfuhr, hatten auch Detlefs Eltern entsprechende Einsicht gezeigt. Es herrschte Waffenstillstand, aber kein Friedensvertrag, und unsere Eltern agierten als Schutzmächte.
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Karneval 1962
Fotos sind Dokumente des Tatsächlichen, die Erinnerungen auslösen. Diese mischen sich dann in die Fotos ein, reichern sie an und lassen wie unsichtbare Fingerabdrücke der Vergangenheit noch nachträglich Nuancen und Details herauslesen, die auf den Bildern gar nicht zu sehen sind, Details, die sonst längst vergessen wären – zum Beispiel dass die Weinflasche, die das Foto zeigt, in einer Plastiktüte von C & A versteckt war. Dass die Flasche aus dem Keller stammt, in dem auch der Eichhörnchenvorrat eingelagert ist. Dass Hanna mit ihrem Zorro in den Keller gestiegen ist, als sie vom Barfuß-Ball nach Hause kamen. Und ab ins Juchhe.
Klack!
Diese Weinflasche auf dem Mülleimer erinnert auch an den Karnevalsschlager, der für den 30. Mai den Weltuntergang vorhersagte, an die Schunkelgemütlichkeit, die nicht nur zum Karneval in Köln, Düsseldorf oder Mainz herrschte, sondern das ganze Land erfasst hatte, an die von halbtrockenen Weinen und Eierlikör besoffene Wirtschaftswunderseligkeit, die nichts als die dümmlich grinsende Karnevalsmaske war, hinter der sich das Ende der Welt verbarg, der Veitstanz auf dem atomaren Vulkan.
Karneval galt bei uns Norddeutschen als rheinische Kuriosität, eine bemitleidenswerte Albernheit, die mit einer Mischung aus Achselzucken, Befremden und nachsichtigem Unverständnis zur Kenntnis genommen wurde. Der Frohsinnsausnahmezustand schien dennoch eine gewisse, bis zu uns reichende Ausstrahlungskraft zu besitzen, häuften sich in den Tagen vor Rosenmontag doch diverse Bälle und Feste. Meine Eltern gingen wie in jedem Jahr auf den Ball der Industrie- und Handelskammer sowie eine Woche später auf den Apothekerball.
Am selben Abend organisierte der Sportverein, in dessen B-Jugend ich kickte, stets eine große Tanzveranstaltung, den Barfuß-Ball. Er fand in der vereinseigenen Turnhalle statt. Der Fußboden, der früher wie in einer Reithalle aus einer Mischung aus Sand und Sägemehl bestanden hatte, war erst kürzlich durch Parkett ersetzt worden, und um das teure Holz zu schonen, mussten alle Teilnehmer ihre Schuhe an der Garderobe abgeben und bekamen im Gegenzug je ein Paar grau melierte Wollsocken. Kostümierungen waren willkommen, aber selten. Manche riskierten einen Frack aus der Mottenkiste oder ein quer gestreiftes Seemannshemd, andere leisteten sich eine rote Pappnase, aber die meisten kamen sich in ihren Socken närrisch genug vor. Wer sich dem Frohsinn noch hemmungsloser hingeben wollte, nahm den Namen ernst, verschmähte die Socken und lief barfuß. Es gab keine offizielle Altersbeschränkung, aber eine unausgesprochene Übereinkunft, dass Jugendliche unter 16 Jahren nur Zutritt hatten, wenn sie bereits die Tanzschule absolviert hatten und ihre Eltern zustimmten.
Meine Eltern stimmten zu, nachdem ich hoch und heilig versprechen musste, spätestens um elf Uhr wieder zu Hause zu sein. Da sie auf den Apothekerball gingen, konnten sie meine Rückkehr nicht selbst kontrollieren, aber ich sollte pünktlich Meldung bei Oma erstatten, die sich in unserer Wohnung die Prunksitzung des Kölner Karnevals im Fernsehen anschauen wollte.
Hanna fand das unerhört. »Als ich so alt war wie Markus, musste ich schon um zehn zu Hause sein«, maulte sie. »Wenn ich überhaupt weg durfte.«
»Du bist ja auch ein Mädchen«, sagte mein Vater.
Darauf wusste Hanna keine Antwort, biss sich nur wütend auf die Unterlippe und flüsterte mir zu: »Aber bleib mir bloß vom Leibe.«
»Das sowieso«, grinste ich. »Du mir auch.«
Sosehr ich dem Ball entgegenfieberte, so betrübt war ich, ohne Clarissa gehen zu müssen. Nach meiner dritten oder vierten Gitarrenstunde,
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