Klagelied auf einen Dichter
stellte Wedderburn sein Glas ab und faltete seine
Serviette. »Mr. Appleby, Gylby versichert mir, daß bei Fragen wie dieser Ihre
Ansicht einiges gilt. Würden Sie wohl so freundlich sein und uns erklären, was
Sie da gerade gesagt haben?«
»Miss Mathers selbst kennt ein Stückchen Wahrheit, das sie, soviel
ich weiß, uns anderen bisher vorenthalten hat. Wer hat sie im Schulzimmer
aufgesucht und wer verließ dieses Zimmer und verschwand im Dunkeln, unmittelbar
bevor Gylby und Hardcastle die Treppe zum Turm emporstiegen?«
»Alle Achtung – eine interessante Frage. Gewiß hat sie mit Stewart
darüber gesprochen. Ich habe ihm ja heute nachmittag sehr die Zügel aus der
Hand genommen; andernfalls wäre die Erklärung mit Sicherheit gefallen.«
»Es ist mehr als nur eine interessante Frage. Mitten in der
Einsamkeit von Erchany und in tiefer Nacht finden wir einen weiteren Mann – und
wissen nichts über ihn. Es sei denn, es wäre nur der Bursche Tammas gewesen.«
Dazu schüttelte Gylby den Kopf. »Tammas war es nicht; der kam erst
viel später ins Haus. Und Gamley natürlich auch nicht.«
»Gut. Und dieser Umstand gewinnt umso mehr an Gewicht, als es aller
Wahrscheinlichkeit nach – auch wenn Miss Guthrie anderer Ansicht ist – noch
einen weiteren Besucher auf dem Turm gab. Jemand muß wissen, wer es war, der
die Falltür bei den Zinnen öffnete, der hinabstieg und sie von unten wieder
verriegelte. Aus Gylbys Aufzeichnungen wissen wir, daß der Schnee dazu
eindeutige Beweise lieferte. Die Falltür war nicht lange zuvor geöffnet worden.
Von wem? Und warum?«
Sie schwiegen einen Moment lang, dann sagte Wedderburn unerwartet
humorvoll: »Da metzeln Sie die unschuldigen Kindlein hin, Mr. Appleby. Und ich
fürchte, das trifft nicht nur mich, sondern auch Ihren Kollegen Speight.« Er
überlegte. »Die Grundzüge der Situation sind eindeutig genug, aber ganz offensichtlich
gibt es noch weitere Faktoren, die wir übersehen haben. Und ich würde sagen,
dem muß nachgegangen werden.«
»Das finde ich auch – und würde damit rechnen, daß noch einige Aufschlüsse
auf uns warten. Miss Guthrie, stimmen Sie zu?«
Sie betrachtete mich nachdenklich, bevor sie antwortete. »Wenn Sie
wirklich belegen können, daß noch jemand auf dem Turm war, dann wird es auch
neue Aufschlüsse geben. Auf nach Erchany, Mr. Appleby.«
Wedderburn erhob sich. »Miss Guthrie und ich hatten ohnehin vor,
noch hinaufzufahren. Der Verstorbene hatte offenbar keinen Hausjuristen, und
unter diesen Umständen halten wir es für angemessen, daß wir zusammen mit dem
jungen Stewart nachforschen, was sich an Papieren finden läßt. Wollen Sie uns
begleiten? Aber vielleicht sollten wir zuerst zum Pfarrhaus fahren, wo Miss
Mathers Unterkunft gefunden hat, und uns nach ihrem nächtlichen Besucher
erkundigen.«
»Ich komme gern mit – obwohl Sie wissen sollten, daß ich nicht
offiziell mit dem Fall betraut bin. Wenn wir etwas entdecken, muß ich es unter
Umständen an Speight weitergeben. Den Besuch bei Miss Mathers würde ich gern
auf später verschieben. Ich habe noch eine weitere Frage an sie, und die möchte
ich mir noch aufheben.«
Wedderburn, der eben Miss Guthrie in den Mantel half, wandte sich
um. »Und die wäre?«
»Ob ihr Onkel jemals Wintersport trieb.«
»Ein höchst rätselhaftes Anliegen.«
Noel Gylby, der sich vorausschauend die Taschen mit gebuttertem
Zwieback vollstopfte, hielt einen Augenblick dabei inne. »Sie werden
feststellen«, sagte er, »daß Appleby für jeden von uns eine solche Frage hat.
Wie lautet denn meine?«
»Nur eine Kleinigkeit. Wir wissen, welche Botschaft die gelehrte
Ratte überbrachte. Doch was wollte Ihnen die unbekannte Eule sagen?«
II.
Wir erfuhren, daß Stewart in einem dringenden Fall zurück nach
Dunwinnie gemußt hatte, und er ließ uns ausrichten, er werde so schnell wie
möglich nach Erchany nachkommen. Auf der Fahrt durchs Dunkel erzählte mir
Wedderburn aus seinem Bericht das meiste, was ich davon noch nicht gewußt
hatte, und ich glaube, ich hatte einigermaßen Ordnung in meine Gedanken
gebracht, als wir bei der Burg anlangten. Aus den kleinsten Indizien dessen,
was am Weihnachtsabend hier geschehen war, hatte Wedderburn am Nachmittag ein
Bild konstruiert, das schlüssig und überzeugend war. Aber er hatte – um wieder
den so vielsagenden Vergleich zu Ranald Guthries Puzzlespielen zu bemühen – nicht alle Steine untergebracht, und sein Bild konnte also noch nicht
vollständig sein.
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