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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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Bericht. Vielleicht ist es ein Kompliment für
seine literarische Ader, daß ich darüber das Bestellen des Abendessens ganz
vergaß. Als er eine gute Stunde später mit Wedderburn und Sybil Guthrie
zurückkehrte, setzten wir uns, nachdem wir noch einmal in aller Form
miteinander bekannt gemacht waren, zu einem Mahl aus kaltem Hammelbraten
zusammen. Er schmeckte nach nichts, wodurch zweifellos die Säure des Weins nur
umso krasser in Erscheinung trat. Ich trank Bier.
    Der alte Wedderburn schien in gesprächiger Stimmung; er strahlte
mich so wohlwollend an, daß es angebracht schien, ihn zu seiner Aufklärung des
Falles zu beglückwünschen.
    »Mein lieber Mr.   – ähm – Appleby, mein großes Glück war, daß ich
aufmerksam den Klatschgeschichten zuhörte, die unsere Wirtin hier im Gasthaus
zu erzählen hatte. Alles andere ergab sich daraus.«
    »Tatsächlich?«
    »Das unglaubliche Gerücht, daß der Leichnam verstümmelt worden sei!
Konnte denn so etwas die Runde machen, ohne daß es absichtlich ausgestreut war;
konnte es sich durch Mißverständnis aus etwas anderem entwickeln? Eine Weile
lang war ich so einfältig und glaubte das tatsächlich. Dann begriff ich, daß
Bösartigkeit dahinterstecken mußte – entweder reine, dumme Bösartigkeit oder
eine, die etwas damit bezwecken wollte. Ich überlegte, wie es funktionieren
konnte, wenn es böse Absicht war – und worauf kam ich? Ich kam darauf, daß
dieses Gerücht, wenn es wirklich jemand anderen belasten sollte, wahr sein
mußte. Und damit brachte ich nun den auffälligen Umstand zusammen, daß
Hardcastle unbedingt die Leiche sehen wollte und daß er, ohne daß er sich
vergewissern konnte, davon sprach, Lindsay habe Guthrie etwas ›angetan‹. Das
führte mich direkt ins Zentrum des ganzen Planes.«
    »Und ein seltsamer Plan war es, Mr.   Wedderburn. Ich glaube nicht,
daß Sie in den Akten etwas auch nur annähernd Vergleichbares finden werden.
Gewiß, Leute haben sich schon umgebracht, um andere damit zu belasten, aber es
waren keine Leute von dem Format, das Guthrie offenbar hatte. Sie mögen seine
Melancholie am Rande des Wahnsinns geteilt haben, aber sie hatten nicht seinen
kühnen Verstand.«
    »Was das Wesen des Kriminellen angeht, Mr.   Appleby, kann meine
Erfahrung es nicht mit der Ihren aufnehmen. Aber man muß seine Psychologie den
Fakten anpassen, nicht umgekehrt.«
    Ich rief mir ins Gedächtnis, daß Wedderburn am Nachmittag seine
Gegenspieler vernichtend geschlagen hatte und daß nichts gewonnen war, wenn ich
noch nachträglich Zweifel an einer forensischen Methode anmeldete, die sich so
gut bewährt hatte. »Da haben Sie recht«, sagte ich. »Und daß er heimtückisch
gegen Lindsay intrigierte, ist nicht zu leugnen.«
    »Wissen Sie –« Gylby ergriff das Wort, und er sah Wedderburn sehr
vorsichtig an, bevor er weitersprach. »Wissen Sie, Christine hat da etwas
Seltsames gesagt. Ich bin noch ein wenig im Pfarrhaus geblieben, für den Fall,
daß ich nützlich sein konnte. Und plötzlich sagte sie ganz unvermittelt: ›Ich
kann das nicht glauben; ein so grober Mensch war mein Onkel nicht.‹ Und dann
sah sie mich an, als erwarte sie von mir, daß ich eine andere Erklärung aus dem
Hut zauberte.«
    Wedderburn betrachtete streng das Sediment, das sich in seinem
Weinglas abgesetzt hatte. »So seltsam kommt mir das nicht vor. Daß die Nichte
des Schurken, und sein Mündel dazu, solche Gefühle für ihn hegt, ist anständig
und ehrt sie. Aber diese Familiendinge gehen uns nichts an.«
    »Ich fürchte, Sir, so hat sie das nicht gemeint. Sie wollte nicht
bestreiten, daß Guthrie der größten Schandtaten fähig war. Sie fand nur, daß
sein Verstand feiner – ausgeklügelter – war, als diese Geschichte nahelegt.«
    » Noch ausgeklügelter? Lieber Himmel!«
    »Und sie sagte auch: ›Sein Verstand war ausgeglichen; etwas so
Extremes hätte er nur gegen ein anderes Extrem gesetzt.‹«
    Sybil Guthrie zerbröselte Brot, nahm einen Schluck von dem Wein
und verzog die Miene, und dann sagte sie: »Wird es ihr schwer zu schaffen
machen? Wahrscheinlich schon. Mr.   Appleby, wie reagiert ein Menschenverstand,
wenn er etwas so Schreckliches erlebt?«
    Ich ging der Verallgemeinerung aus dem Weg. »Ich denke mir, Miss
Guthrie, es wird ihr zusetzen, solange sie das Gefühl hat, daß sie nicht die
Wahrheit kennt.«
    »Aber sie kennt die Wahrheit! Wir alle kennen sie.«
    »Jeder von uns kennt einen Teil davon. Aber keiner weiß bisher
alles.«
    Sehr bedächtig

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