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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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Faden gerissen war, war sie mit der
Selbstverständlichkeit einer reifen Aprikose, die vom Baum fällt, in die
Vergangenheit geplumpst. Wir hätten müßige Touristen sein können, die zu einer
spätabendlichen Besichtigung kommen, wären nicht die Gedanken an die jüngsten
Todesfälle noch so allgegenwärtig gewesen. Die Standuhr, die Gylbys Gedanken so
sehr gefangengenommen hatte, tickte noch, doch mit dem sinistren Klang einer
Uhr, die in der Tasche eines Toten tickt.
    Ich sog die kalte, abgestandene Luft tief ein. Dies hier, und nicht
Kinkeig, war gewiß der Ort für Guthries Gespenst, angemessen begleitet von dem
Schatten Hardcastles und einem Schwarm tanzender Geisterratten. Und auch wenn
ich nicht wirklich daran glaubte, daß diese Geister umgingen, wurde ich doch
von einer plötzlichen abergläubischen Stimmung beinahe überwältigt. Am
Nachmittag hatte Wedderburn das Geheimnis von Erchany begraben: sollte man es
denn wirklich wieder aufstören und womöglich etwas noch Schlimmeres zutage
fördern? So sehr nahm mich dieses Gefühl gefangen, daß ich zuerst an meine
Berufsehre appellieren mußte – daß die Gerechtigkeit stets Vorrang hatte –,
bevor ich diese Gedanken abschütteln und die anderen bitten konnte: »Wäre es
möglich, daß wir jetzt gleich auf den Turm gehen?«
    Schweigend gingen wir einen langen Korridor entlang und passierten
die erste jener Türen, die Gylby so geistesgegenwärtig verschlossen und damit
alle Versuche Hardcastles vereitelt hatte, die verräterische Telefonapparatur
zu entfernen. Dann ging es die Treppe hinauf. Der Turm, sagen die Psychologen,
ist ein Symbol des Ehrgeizes – eine gefährliche Höhe, wie der höchste Punkt des
Glücksrades. Und die massive Erde – die kleine Welt drunten – steht symbolisch
für die Sicherheit. Und ein Mann, den der Wahnsinn dazu treibt, sich vom einen
dem anderen entgegenzustürzen, der sucht nichts weiter als einen Weg von der
Gefahr zur Sicherheit; die trügerische Logik des Unbewußten wird ihm zum
Verhängnis. Zweifellos war es Guthries Ehrgeiz, der ihn unbewußt sein Domizil
an diesem so mühsam zu erreichenden Ort hatte aufschlagen lassen. Konnte die
symbolische Deutung der Psychologen Licht in das bringen, was am
Weihnachtsabend hier geschehen war? War tief in seinem Inneren der Sturz ins
Verderben für Guthrie der Weg in die Sicherheit – die Rettung – gewesen? Hatten
wir hier, wenn man es so ausdrücken konnte, einen unbewußten Stein jenes
größten aller Puzzles, von dessen Lösung er zu Christine Mathers so düster
gesprochen hatte? Doch ich verschob diese akademischen Fragen auf später: wir
waren an der Tür zur Studierstube angelangt.
    Das Zimmer ist schon von meinen Vorgängern beschrieben worden, und
ich brauche nur einige wenige Details hinzuzufügen. Türme wie dieser sind oft
im Laufe der Jahrhunderte aufgestockt worden – der Bau in die Höhe war das
billigste Mittel, zusätzlichen Raum zu schaffen. Doch das Turmzimmer von
Erchany gehörte unmißverständlich von Anfang an zum ältesten Teil des Hauses
dazu. Die Wände, die etwa vier Fuß gegenüber den darunterliegenden Mauern
zurücksprangen, damit sich der Raum für den Wehrgang ergab, konnten nur etwa
halb so dick sein wie die unmittelbar darunterliegenden: trotzdem beeindruckte
mich neben der unglaublichen Einsamkeit vor allem das Wehrhafte dieses Ortes.
Diese beiden Zimmer – die Studierstube und die kleine Schlafkammer nebenan – stammten aus einer Zeit, als man sich in einer Burg noch wirklich verschanzte
und sie nicht nur zum Zeichen des gesellschaftlichen Ranges baute. Und diesen
Charakter einer uneinnehmbaren mittelalterlichen Festung hatten sie bis heute
behalten.
    Inzwischen zierte eine ganze Reihe toter Ratten den Raum: sonst war
alles unverändert, seit Gylby die Tür zum ersten Mal verschlossen hatte. Ich
konnte mir gut vorstellen, daß Speight, wenn er die Ereignisse des Nachmittags
erst einmal verdaut hatte, am Morgen herkommen und sich noch einmal gründlich
umsehen würde, und ich war froh, daß ich vorher in Ruhe einen Blick darauf
werfen konnte. Die aufgebrochene Schublade, das falsche Telefon – Amateurarbeit, aber doch eine wunderbar einfache und praktische Idee – und die
Bücher auf dem Schreibtisch: ich sah sie mir gründlich an, bevor ich mich dem
Schlafzimmer zuwandte. Hier untersuchte ich, was an Gerümpel in der Ecke stand,
und kehrte dann mit dem Buch in die Studierstube zurück, das Wedderburn am
Vormittag entdeckt hatte:

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