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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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Flinders’ Experimentelle
Radiologie . »Ein interessantes Buch«, sagte ich. »Oder besser gesagt:
ein interessantes Vorsatzblatt. Ist Ihnen das aufgefallen?«
    Doch keiner hatte das Vorsatzblatt angesehen, und ich legte das Buch
nun aufgeschlagen auf den Tisch. In ordentlicher Handschrift stand mit Tinte
darauf geschrieben:
    Richard Flinders
    Mitglied des Royal College of Surgeons
    Geboren in Südaustralien, Februar 1893
    Gestorben in
    Wedderburn war ganz perplex, als er diesen Eintrag und die nicht
zu Ende geschriebene letzte Zeile sah. »Liebe Güte! Das hätte mir auffallen
müssen. Ein höchst seltsamer Vermerk. Meinen Sie, es hat etwas mit Guthries
Jahren in Australien zu tun?«
    Ich zeigte mit dem Finger auf die dritte Zeile. »Geboren 1893. Sagt
uns das etwas?«
    Es herrschte verblüfftes Schweigen, bis Sybil Guthrie das Wort
ergriff.
    »Ich weiß von Christine, daß ihr Onkel im Jahr 1894 zurückkam und
Erchany erbte. Ein Jahr nach dem Geburtsjahr dieses Mannes.«
    Ich nickte. »Gut. Ein wichtiges Faktum – und eines, das nicht paßt!
Oft die nützlichsten Fakten. Gylby, können Sie einmal nachsehen, ob es in
Guthries jüngst erstandener medizinischer Bibliothek einen Medizinerkalender
gibt? Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß er sich kein solches Who ’ s Who der Medizin zugelegt
hat.«
    Eine kurze Suche förderte das Erwartete zutage, und ich schlug die
entsprechende Seite auf. »Hier haben wir ihn – und eine Koryphäe, der Länge des
Eintrags nach zu urteilen. Doktor der Medizin in Adelaide; arbeitete dort, dann
in Sydney, dann für lange Zeit in den Vereinigten Staaten. Was zweifellos
erklärt, daß er vor kurzem den Ehrentitel eines Emeritus einer dortigen
akademischen Gesellschaft erhalten hat, mit Pension. Dann wieder in Sydney, ein
paar kürzere Reisen nach London. Offenbar zunächst ein großer Chirurg, dann
wandte er sich experimentellen Arbeiten zu – deshalb braucht er wahrscheinlich
auch die Pension. Verfasser zweier Standardwerke, von denen eines hier vor uns
liegt. Unzählige Zeitungsaufsätze, ungefähr ein Dutzend Monographien. Hören Sie
sich das nur an. Radiologie und Kardiologie . Radiologie als Hilfsmittel zur Diagnose innerer Erkrankungen . Radium in der Medizin: Ein historischer Überblick . Analyse eines Falles von langzeitigem Gedächtnisschwund . Syringomyelie: Der radiologische Ansatz . Hochgeschwindigkeitsaufnahmen: Ein Beitrag zur modernen Radiologie . Radon  –«
    Wedderburn unterbrach mich. »Mein lieber Mr.   Appleby, interessiert
uns das wirklich?«
    »Sie finden es uninteressant? Nun, vielleicht interessiert Sie dann
der folgende Punkt: Der große Flinders ist nicht nur eine Koryphäe, sondern ein
Wunderkind dazu.«
    »Ein Wunderkind?«
    »Keine Frage.« Ich wies auf das Vorsatzblatt. »›Geboren in
Südaustralien, Februar 1893.‹ Wenn wir das akzeptieren, dann müssen wir auch
glauben, daß er seinen Doktor der Medizin mit sieben Jahren machte.«
    »Das ist doch Unsinn!« rief Wedderburn ungeduldig.
    »Im Gegenteil, es ist das erste Stückchen Wahrheit. Und nun sollten
wir sehen, daß wir noch mehr davon zusammenbekommen. Miss Guthrie, ich könnte
mir vorstellen, daß Sie bei den neuesten Entwicklungen ein wenig den Boden
unter den Füßen verlieren?«
    »Das kann man wohl sagen.«
    »Dann hören Sie zu. Ich gebe Ihnen, was Lindsay betrifft, dasselbe
Versprechen, das Mr.   Wedderburn Ihnen gegeben hat. Daß das, was wir über seine
Rolle in dieser Geschichte wissen, die Wahrheit ist, daran zweifle ich nicht.
Ich verdächtige ihn nicht. Und jetzt möchte ich Ihnen die Frage stellen, die
schon Gylby gestellt hat. Woher um alles in der Welt wußten
Sie, daß Guthrie Selbstmord begangen hatte? «
    »Überhaupt nicht. Genauer gesagt habe ich sogar gesehen, wie er über
die Brüstung gestoßen wurde.«
    Wedderburn seufzte und putzte seine Brillengläser. »Vielleicht«,
sagte ich, »hilft es, wenn wir uns einmal in der Galerie umsehen.«

III.
    Der ausgebleichte Globus ruckte, drehte sich: mein Finger
verfolgte die lange Route von Australien über Suez nach Southampton.
    »Er wird es tun! Es steckt ihm im Blut, und bei Gott, er wird es tun … !«
    Wir gingen die Galerie entlang, und unsere Laternen und
Taschenlampen beschienen die lange Reihe toter Guthries. Ich blieb stehen,
betrachtete ein Porträt, das ein flämischer Künstler aus dem 16. Jahrhundert
geschaffen hatte, dann drehte ich mich um und sah einen Gutsherrn aus dem
späten 18. Jahrhundert, gemalt

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