Klagelied auf einen Dichter
Auch wenn nichts darauf hindeutete, war es doch nicht
undenkbar, daß die fehlenden Steine den Konturen, die schon so klar umrissen
waren, eine ganz neue Deutung geben würden – etwa in der Art, wie ein
Meuchelmörder, den man erst nach längerem Hinsehen in einer dunklen Ecke eines
Gemäldes entdeckt, eine plötzliche sinistre Bedeutung für ein Bild eröffnet,
das einem zuvor als reines Rühr- oder Schaustück vorgekommen sein mochte.
Natürlich konnte die Erchany-Affäre nicht mehr viel sinistrer werden, aber ich
war mir recht sicher, daß das Bild vielschichtiger und komplizierter werden
würde, wenn mehr Steine hinzukamen. Was ich zu jenem Zeitpunkt noch nicht
wissen konnte, das war, daß die Metapher des Puzzlespiels gänzlich unzureichend
war; daß wir es eher mit einer chemischen Mixtur zu tun hatten, komplex und
instabil, die ihre letzte und unerwartete Form erst annahm, als wir die
allerletzte Komponente hinzugegossen hatten. Vielleicht liegt es daran, daß die
Metapher des Puzzlespiels eine solche Gewalt über meine Gedanken angenommen
hatte, daß ich, wenn ich heute auf das Rätsel von Erchany zurückblicke, mir
Ewan Bells Worte vorhalten muß: ein solcher Hochmut bleibt nicht lange
ungestraft.
Mrs. Hardcastle und Tammas waren bei freundlichen oder neugierigen
Leuten in Kinkeig untergekommen, und die Burg lag verlassen da. Der Mond war
noch nicht aufgegangen, doch die Sterne leuchteten am klaren Himmel; als wir
über die Zugbrücke in den Innenhof fuhren, konnte ich die schemenhaften Umrisse
des Haupthauses ausmachen, das uns drohend auf allen Seiten umschloß, und dann,
nach oben hin klarer werdend, wo sie den Lichtern am Himmel entgegenstrebten,
die geraden, kräftigen Linien des Turms. Von Kindesbeinen an, malte ich mir
aus, mußte Ranald Guthrie diese enorme Höhe über dem Burggraben gekannt haben;
von Zeit zu Zeit mußte er sich über die Zinnen gelehnt haben – mehr oder
weniger weit, je nach Temperament – und probiert haben, wie weit sein Mut reichte,
ehe ihm schwindelte. Und seit wie vielen Jahren mochte ihn der Gedanke schon
fasziniert haben, daß ein Körper über der Brüstung hing, kippte, stürzte – und
mit der Wucht einer Kanonenkugel unten auf die Steine prallte. Ich wandte mich
an Wedderburn: »Als erstes würde ich gern den Burggraben sehen.«
Gylby besorgte eine Laterne, und dann kletterten wir beide auf dem
Weg hinunter, den Gamley genommen hatte. Der tauende Schnee war nun weich und
naß, und wir kamen sehr mühsam voran. Wir fanden den kleinen Krater, den der
Leichnam hinterlassen hatte – er war nach wie vor deutlich zu sehen, mit
solcher Wucht war der Körper aufgeprallt – und betrachteten ihn ein paar
Augenblicke lang schweigend. Dann sagte ich: »So viele Puzzlesteine überall – ich könnte mir vorstellen, daß einer davon hier unten liegt. Können Sie mir
einen Spaten besorgen?«
Gylby ging sich umsehen und kehrte schon kurz darauf durch den
Schneematsch mit zwei Spaten zurück. »Bittesehr«, sagte er munter. »Nun also
der Schädel Yoricks.«
Wir stocherten im Schnee und gruben hie und da – es wäre weitaus
vernünftiger gewesen, es bei Tageslicht zu tun –, und es war reines Glück, daß
ich mit meinem Spaten schließlich an etwas stieß, das tief drinnen steckte.
Nach kurzem Graben hatte ich eine kleine, scharfe Axt freigelegt. Gylby
musterte sie sorgfältig. »Das wird ein hübsches Präsent für Speight«, meinte
er.
»Speight konnte nichts dafür, daß niemand sie gefunden hat. Bis zum
heutigen Nachmittag gab es ja keinen Grund, ihre Existenz überhaupt zu
vermuten. Und da sie aus solcher Höhe fiel, ist sie natürlich tief im Schnee
versunken. Aber Wedderburn wird sich freuen: ein hübsches Werkzeug zum
Fingerabschlagen, das ist doch genau, was ihm zu seiner Theorie noch
fehlt.« Ich befühlte die Schneide. »›Damit ich endlich mit einer großen Ratte
quitt werde.‹ Ich kann nicht sagen, daß mir Freund Ranald dadurch sympathischer
wird. Lassen Sie uns ins Haus gehen.«
Wir fanden Wedderburn und Miss Guthrie umgeben von einer kleinen
Insel aus Kerzenlicht mitten im düsteren Saal der Burg. Noch vor ein paar
Tagen, stellte ich mir vor, hatte in diesem Saal zumindest ein gewisses Maß an
Leben geherrscht. Nun, obwohl er ja erst seit ein paar Stunden verlassen war,
lag ganz und gar die schwere Stimmung des Historischen darauf. Daß Ranald
Guthrie hier gelebt hatte, war der Faden gewesen, der die alte Burg mit der
Gegenwart verband; nun wo dieser
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