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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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Vor ein paar Tagen
erfuhr ich von einer großen Ehre: die amerikanische Stiftung, der zu dienen ich
vor Jahren das Vergnügen hatte, hat mich zum Ehrenmitglied gemacht. Ich werde
nach Kalifornien gehen. Das ist das rechte Klima für ein waches Alter, und zehn
Jahre brauche ich noch, um ein paar Dinge zu studieren, für die ich in meinem
regen Wissenschaftlerleben kaum Zeit gefunden habe. Auf meinem Felde habe ich
getan, was ich konnte – ja, meine Arbeiten sind in gewissem Sinne abgeschlossen –, und ich werde mich von der Medizin wie vom gesellschaftlichen Leben ein für
allemal zurückziehen. Im Laufe meiner Karriere habe ich Kenntnisse in einer
ganzen Reihe von Sprachen erworben, und das Studium der europäischen
Literaturen ist genau die richtige Beschäftigung für einen Mann, der am Ende
eines langen Lebens angekommen ist.
    Erst jetzt, wo meine Lebensaufgabe in die Hände Jüngerer übergeht,
denke ich wieder an Erchany. Und je sentimentaler ich werde, desto
leichtsinniger werde ich auch; nun spüre ich wieder, wie unrecht mir vor vielen
Jahren getan wurde; ich möchte Ranald einen Schrecken einjagen. Wenn dieser
Impuls jemals die Oberhand gewinnt, dann weiß ich, daß ich im Alter wieder zum
Kind geworden bin.
    Aber es ist eine Tatsache – ich habe Sehnsucht nach dort. Ich denke
daran zurück, wie wir Ball im Burggraben gespielt haben, an den Turm, an
das Herzklopfen, wenn man im Dunkeln an den Zinnen stand, an die Galerie, wo
wir die Heldentaten unserer Vorfahren nachspielten, die uns dabei von den
düsteren Wänden zusahen. Der verschneite Ben Cailie, der Nebel über dem See,
die Lachse, die über das Stauwehr sprangen … Das Blut ist noch immer stark.
Vielleicht sehe ich Erchany doch noch in mehr als nur meinen Träumen, bevor
mein letztes Stündlein schlägt.
    Sydney, New South Wales,
am Andreastag 1936.

III.
    TIMOR
MORTIS CONTURBAT ME … Der Singsang meines Bruders – seltsam, wo
ich es doch bin, der sterben soll. Ich selbst habe nur wenig Furcht.
    Da ich Feder und Tinte habe und noch schreiben kann, will ich diesen
Bericht – den ich zu Ranalds Aufklärung mit nach Erchany brachte – fortführen,
so gut es geht. Wenn ich ihn in einer Ritze dieses alten Gemäuers verberge,
wird er vielleicht seinem wachsamen Auge entgehen und später einmal die
Geschichte erzählen können. Und daß sie erzählt wird, das will ich, auch wenn
sie der langen und bunten Chronik der Guthries ein finsteres Blatt hinzufügen
wird. Mein Leben lang habe ich mich dafür eingesetzt, das menschliche Wissen zu
mehren: für mich darf eine Chronik nichts verschweigen.
    Deshalb halte ich auch fest, daß die Notlage, in der ich mich jetzt
befinde, allein meine Schuld und Verantwortung ist. Was ich getan habe, war
kindisch und rachsüchtig. Und – was mich, fürchte ich, noch mehr quält – ich
habe mich als schlechter Analytiker des Verstandes erwiesen.
    Rachsüchtig in gewissem Sinne, doch andererseits wollte ich auch
einen gnädigen Mantel des Vergessens über die Vergangenheit breiten. Ich hatte
in jenen Ereignissen im Busch ja im Grunde nicht mehr gesehen als daß Ranald
mir einen bösen Streich gespielt hatte, daß er sich nicht an die Regeln
gehalten hatte, und zur Strafe wollte ich ihm einen ordentlichen Schrecken
einjagen, bevor ich mich aufs Altenteil zurückzog. Was für eine kindische Idee – und wie sehr hatte ich unterschätzt, was zwischen uns lag! Als er damals in
jener Not davonlief, mit Pferden, Wasser und allem, da hatte Ranald versagt – als Guthrie, als Bruder, als Mann. Und seither lebte er in der Schande dieses
Versagens, sein ganzes Leben beherrscht von dieser einen demütigenden
Erinnerung. Den hysterischen Jüngling hatte ich aus dem Hafen von Fremantle
gefischt, wo es vor Haien nur so wimmelte, und er war mir dankbar dafür
gewesen; ein paar Monate später im Busch ließ er mich im Stich. Und der Kampf,
der nun in diesem einsamen schottischen Turm zu Ende gekämpft werden soll,
steht in seltsamem Einklang mit der großen Wahrheit der größten aller
schottischen Tragödien, Macbeth . Es gibt eine
Blutschuld, vor der niemand zurückweichen kann, keinen Weg hinaus außer dem Weg
vorwärts durch neues vergossenes Blut. Was Ranald in seinem Gedächtnis sieht,
ist kein böser Streich, sondern es sind Verrat und Verbrechen. Jahr um Jahr
wuchs die Überzeugung bei ihm, daß er mich nicht in Panik, sondern mit Absicht
im Stich ließ. Jahr um Jahr haben die Schuldgefühle sich in seinem Verstand
immer

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