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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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stärker festgesetzt, haben seine Persönlichkeit mehr und mehr belastet
und schließlich zerbrochen, so daß er in jeder Zwangslage sich sogleich als
Gefangenen und als skrupellosen Täter sehen wird. Überzeugt – durch meine
eigene melodramatische Dummheit, kein Zweifel –, daß ich wie ein
Guthrie-Wüterich vergangener Zeiten über ihn kommen und gnadenlos Rache nehmen
würde, legte er sich seinen eigenen Plan von unerbittlicher Grausamkeit zurecht – wenn auch gemäßigt durch seine ausgeklügelte Art, seine faszinierenden
intellektuellen Feinheiten, die ich, habe ich den Eindruck, nicht einmal
annähernd erfaßt habe. Mein Gespenst hat Ranalds gesamtes Leben überschattet.
Nun wo ich wie von den Toten zurückgekehrt bin, ist es ihm eine seltsame
Befriedigung geworden, meinem Leben eine ganz andere Perspektive zu geben, bei
der die Tatsache, daß es geopfert wird, nichts weiter ist als ein Schachzug in
einem komplizierten Spiel, das ganz von ihm beherrscht wird. Mein Tod im Busch
überrumpelte ihn und wurde ihm zum Verhängnis; meinen Tod auf Erchany wird er
beherrschen und zu seinem Vorteil nutzen. Es ist eine Art sich zu »retten«, die
einigen Stoff für die Psychologen bieten würde.
    Ich schrieb ihm von Australien aus, berichtete ihm, was aus mir
geworden war, sagte jedoch nichts von meinen Plänen – genoß die alberne
Befriedigung, ihm mit vagen Andeutungen Angst zu machen. Er hatte reichlich
Zeit, seine Vorbereitungen zu treffen; er konnte Erchany isolieren,
Hausangestellte entlassen, sich der Hilfe des servilen Hardcastle versichern.
Was Ranald antreibt, sind Jahre geistiger Verirrung, und im Grunde will ich
nicht, daß er dafür zur Rechenschaft gezogen wird. Doch Hardcastle läßt sich für
seine Hilfe bei diesem Mord bezahlen. Ich hoffe, er bekommt seine Strafe dafür.
    Ich schrieb Ranald ein zweites Mal und kündigte an, daß Dr.   Richard
Flinders in aller Stille am Abend des 23. Dezember bei ihm eintreffen
werde. Das mag verschroben und melodramatisch genug erscheinen, und mit schöner
Ironie kam es Ranalds eigener melodramatischer Phantasie noch höchst gelegen.
Aber es verfolgte eine Absicht. Ich wollte ja nicht, daß Ian Guthrie zu neuem
Leben erwachte, und die gewählte Stunde würde es meinem Bruder leicht machen,
ein Zusammentreffen ganz im Vertrauen zu arrangieren. Außerdem hatte die Wahl
des Datums etwas Sentimentales, Versöhnliches. Als Kinder hatten wir uns immer
heimlich zur Mitternacht dieser Nacht getroffen und uns ausgemalt, was in der
nächsten Mitternacht – der Weihnacht – in unseren Strümpfen stecken würde. Doch
ganz offensichtlich war Ranald nicht in einer Verfassung, in der er diese
Anspielung verstanden hätte.
    Die unerwartet heftigen Schneefälle machten mir zu schaffen. Aber
ich bin schon seit langem ein versierter Skiläufer – kaum jemand weiß, was für
ausgezeichnete Skipisten es in Australien gibt –, und Skier waren in meinem
Hotel in Dunwinnie nicht schwer zu finden: der Ort ist ein – im Augenblick
überfülltes – Zentrum für die Wintersportgäste, die auch Schottland neuerdings
anzieht. Ich erreichte Erchany auf einem nicht ganz ungefährlichen Weg entlang
der Flanke des Ben Cailie.
    Hardcastle ließ mich so umsichtig ein, wie ich erwartete, und führte
mich sogleich in den Turm. Und dort überwältigten er und Ranald mich
gemeinschaftlich. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Die Sache ist einfach genug,
entsetzlich und – wenn man bedenkt, daß Ranald und ich Brüder sind – merkwürdig
grausam. Diese kleine Kammer ist vielleicht schon von ihren Erbauern als
Gefängnis gedacht gewesen; vielleicht hat schon vor Hunderten von Jahren ein
anderer hier geschmachtet. Ich habe getan, was ich konnte. Ich habe einige der
Ratten von Erchany fangen können, dreiste und träge Geschöpfe, und habe sie als
Boten ausgeschickt: ich könnte mir vorstellen, daß sie in alle Winkel des
Hauses kommen. Und ich habe so gut es ging versucht, den australischen Kui zu
rufen – es gibt kaum einen durchdringenderen Ruf auf der Welt. Doch dieser Raum
liegt so hoch, die Wände sind dermaßen dick, der Sturm tobt so sehr und der
Schnee dämpft jeden Laut, daß ich mir nicht vorstellen kann, daß jemand es auch
nur bemerken wird, oder, wenn er den Ruf vernimmt, für etwas anderes als das
Heulen des Winds oder für eine Eule halten wird. Ich weiß ja nicht einmal, ob
es außer meinem Bruder und seinem Faktotum überhaupt noch eine Menschenseele
auf Erchany gibt.
    Er hat mir

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