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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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ein Buch zu lesen gegeben: Experimentelle
Radiologie von Richard Flinders – ich kann mich glücklich schätzen, daß
Ranald diesen Hang zum Abstrusen hat und nicht einfach nur sadistisch ist. Es
ist ein klares, vernünftiges Buch, und es hat mir Freude gemacht, noch einmal
darin zu lesen. Und der Gedanke an die Medizin bringt mich darauf, noch ein
letztes hier festzuhalten: Ranald ist nicht verrückt. Seine Gedanken und Taten
sind logisch auf ein Ziel gerichtet, ein Ziel, das er erreichen kann …

SECHSTER TEIL
    John Appleby

I.
    Mr.   Wedderburn stieß einen tiefen Seufzer aus, als ich diesen so
jäh abbrechenden Bericht niederlegte. »Brudermord«, sagte er. »Und Miss Mathers
hatte recht. Meine Deutung der Tatsachen wurde Guthries Genie nicht einmal
halbwegs gerecht. Ranald mordete Ian, und es sollte aussehen, als hätte Lindsay
Ranald gemordet. Er brachte seinen Bruder um und lastete es dem Geliebten
seiner Nichte an. Es ist Irrsinn.«
    Ich nickte. »Wenn man moralische Maßstäbe anlegen will, ganz gleich
welche, dann ist es Irrsinn. Und doch könnte alles nicht logischer sein. Er tat
mit großem Geschick, was notwendig war, und erreichte sein Ziel.«
    Sybil Guthrie, die sich nicht gerührt hatte, während ich Ian
Guthries Vermächtnis verlas, sprang auf. » Warum? «
fragte sie. »Was hat ihn getrieben? Was war das Motiv zu einer so teuflischen
Tat?«
    Ich versuchte, es in Worte zu fassen. »Es ist ein ganzes Geflecht
von Motiven. Man kann es in verschiedene Richtungen zurückverfolgen, man kann
es Schicht um Schicht freilegen und findet immer weitere Motive. Zunächst
einmal das, was Ian sah: Ranalds ganzes Leben überschattet von jenem Verbrechen
in Australien; all die Schuldgefühle, die sich zur Neurose verdichteten;
folglich die absolute Gewißheit, daß Ian nur kommen konnte, um sich zu rächen;
der Schluß daraus, daß Ian überlistet und getötet werden mußte. Zugleich war
aber auch eine Symbolik am Werke, die tiefer ging. Ians Tod im Busch
beherrschte jeden seiner Gedanken; doch darüber, wie Ian nun zum zweiten Mal,
und diesmal wirklich, starb, darüber würde er herrschen.«
    Noel Gylby klatschte in die Hände wie ein Kind. »Diesmal würde er oben bleiben, und zwar werweißwieviele Stockwerke weit
oben … oben auf dem Turm!«
    »Ganz genau! Und ein Psychoanalytiker würde Symbole finden, die noch
tiefer liegen. Das ging mir schon früher am Tag durch den Kopf. Wenn ein Mensch
sich aus großer Höhe in die Tiefe stürzt, dann ist es eine symbolische Flucht
vor der Gefahr – der angsteinflößenden Welt oben – in
die Sicherheit und Geborgenheit der Welt unten . Als
er Ian von Turm stürzte, gelang Ranald das, wobei er in Australien versagt
hatte. Er rettete Ian. Sein Verbrechen war ein Witz – ein Werk jener grimmigen Ironie, die wir schon so oft bei Ranald gefunden
haben.«
    »Ein Witz!« rief Wedderburn.
    »In dem Sinne, in dem Freud das Wort gebraucht. Die Versöhnung
vollkommen gegensätzlicher Wünsche auf einer verbalen oder symbolischen Ebene.
Der Wunsch, Ian zu zerstören: der Wunsch, sich zu rehabilitieren, seine eigene
Männlichkeit zu beweisen, indem er Ian rettete.«
    In dem Schweigen, das nun folgte, konnten wir hören, wie sich eine
vergiftete Ratte hinter der Vertäfelung der Galerie dahinschleppte. Wedderburn
zog ein Taschentuch hervor und wischte sich die Stirn. »Ich bin froh«, sagte
er, »wenn mir solche Abgründe des menschlichen Wesens nur in Lehrbüchern
begegnen. Und zwar in medizinischen, nicht in juristischen.«
    »Es liegt in der Natur der Sache, daß sie in beiden auftauchen
werden. Aber unser Geflecht der Motive ist noch lange nicht erschöpft – und
auch unser Schatz an Indizien noch nicht. Tief drinnen steckt Furcht,
Entsetzen, Haß gegen Neil Lindsay, dessen Vernichtung mit so diabolischem
Geschick in das größte aller Puzzles eingefügt wurde. Dem müssen wir nachgehen.
Bisher haben wir nur Gewißheit über jenen Teil des ganzen Komplexes, der Ian
betrifft. Vieles wird Ihnen einfallen, was da hineinpaßt. Zum Beispiel die
Vehemenz, mit der Ranald diese Galerie hier verschloß, als er seine Erbschaft
antrat.« Ich ließ meine Taschenlampe über die Porträts an den Wänden wandern.
»Die Guthries von Erchany! Die Tradition, die Ranald verraten hatte. Eine
wilde, finstere Bande, das mögen sie gewiß gewesen sein. Doch Brudermord – was
Ranald sich im Busch ja praktisch hatte zuschulden kommen lassen –, das hatte
es in der Familie noch nie

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