Klagelied auf einen Dichter
sich ein Wunsch, Medizin zu
studieren, der stärker war als alles andere. Jahre später sollte ich, auch wenn
ich es ratsam fand, gewisse Punkte auszulassen und zu verschleiern, meine Analyse eines Falles von langzeitigem Gedächtnisschwund veröffentlichen – eine Monographie, die seltsam verloren zwischen meinen vielen
Bemühungen steht, die Wissenschaft der Radiologie voranzubringen.
Mr. Anson unterstützte mich großzügig nicht nur während meiner
Studienjahre in Adelaide, sondern auch in der langen, entbehrungsreichen, oft
hoffnungslosen Zeit, die auf jeden jungen Facharzt wartet. Ihm verdanke ich
alles, was aus Richard Flinders geworden ist; und es geschah nicht zuletzt aus
Dankbarkeit ihm gegenüber – und als Demütigung empfinde ich es ganz und gar
nicht –, daß ich, als die Zeit kam, beschloß, daß Richard Flinders nicht
sterben sollte.
Es war im letzten Jahr meines Studiums. Eines Frühlingsnachmittags
ging ich zu Fuß von der medizinischen Fakultät zu meinem Zimmer, das etwa zwei
Meilen von dort lag, jenseits des Parks, der das Herz der kleinen Stadt
umschließt. Eine Pferdetram fuhr davon und gab den Blick auf eine kleine
Menschenmenge frei, die vor einem verhüllten Denkmal stand. Es war das Denkmal
eines schottischen Entdeckungsreisenden, das dort eingeweiht wurde – McDougal
Stewart mag es gewesen sein –, und gerade als ich hinübersah, hob das Lied
eines Dudelsacks an.
Einige Schritte ging ich noch wie in großer Dunkelheit, dann sah
ich, wie im Meisterstück eines Zauberkünstlers, meinen Bruder Ranald vor mir.
Ich sah ihn auf einem Felsen stehen, und er spähte hinaus in den endlosen australischen
Busch. Und ich hörte seine Stimme, wie er mit all der schwarzen Leidenschaft
des erstickten Dichters rezitierte:
Vom verlass’nen Heim, dem verhang’nen
Eiland
Scheiden Berge uns und wüste See,
Doch das Blut hat die Macht …
Stimme und Bild verschwanden, und ich ging weiter und wußte so
wenig wie zuvor. Doch in der Nacht, als ich am Fenster stand und hinunter auf
die mondbeschienene Stadt blickte, wie sie so lieblich zwischen Hügeln und See
dalag, da lüftete sich Schleier um Schleier meines Gedächtnisses. Ich wußte
nun, daß ich Ian Guthrie war, und ich wußte, daß, wie immer wir in jene Notlage
auch gekommen sein mochten, Ranald mich im Angesicht jenes Buschfeuers im Stich
gelassen hatte.
Ich zog Erkundigungen ein und erfuhr, daß Ranald, da die Kinder
unseres älteren Bruders umgekommen waren und auch ich für tot erklärt war,
Erchany geerbt hatte. Ich war in unserer Familie immer der Tüchtigste gewesen;
die Unentschlossenheit, die bei Ranald so ausgeprägt war und die ein Zeichen des
neurotischen Charakters ist, kannte ich nicht; damals brauchte ich gerade
einmal zwei Stunden, bis ich wußte, was ich wollte. Gewiß, ich fühlte mich
gekränkt und ungerecht behandelt, doch ich wollte diesen Gefühlen keine Macht
über mich einräumen. Ich hatte kein Verlangen danach, das Leben eines
schottischen Gutsherrn zu führen – meine Medizinerkarriere war ja schon bis in
die Einzelheiten hinein geplant; ich konnte nicht darauf vertrauen, daß Ranald
mich freudig aufnahm, und ich sah nichts als Verdruß auf mich zukommen, wenn es
zum Streit um die Erbschaft kam. Australien hatte der Welt schon den berühmten
Prozeß um das Tichborne-Erbe beschert, und ich fand, die Sensationen, die es da
gegeben hatte, reichten für eine ganze Reihe von Generationen. Außerdem war
meine Zuneigung zu Mr. Anson zu bedenken, der mit mir gemeinsam meine Karriere
als australischer Arzt plante. Ich sah, daß es dabei keine Kompromisse geben
konnte; wenn ich mich zu erkennen gab, würde es unangenehm für alle sein, und
die Umstände würden mich mehr oder weniger zwingen, mein Amt als Oberhaupt
meiner Familie anzutreten.
Und so lebte ich denn mein Leben als Richard Flinders – meist in dem
Land, das mir zur Heimat geworden war, doch bisweilen auch in England und für
längere Zeit in den Vereinigten Staaten. Ich war nie der wohlhabende Mann, der
ich geworden wäre, wenn ich eine eigene Praxis eröffnet hätte; das meiste, was
ich verdiente, habe ich ebenso wie die beträchtliche Summe, die Richard Anson
mir vermachte, in meine aufwendigen Radiumforschungen gesteckt. Und ich finde,
daß es nicht oft Geld auf der Welt gibt, das besser angelegt ist. Und mein
Grundsatz, die Sorge um meine eigene Zukunft niemals mein Streben nach Wissen
beeinträchtigen zu lassen, hat sich mehr als nur ausgezahlt.
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