Klagelied auf einen Dichter
Motiv? Die Leidenschaft, die ihn beherrschte, war der Geiz; er
lebte, habe ich mir von der kleinen Isa Murdoch erzählen lassen, von
anderer Leute Pennies, die er in den Taschen der Vogelscheuchen fand. Und
genau das hatte er nun vor: endlich würde er nicht mehr auf eigene Kosten leben,
sondern auf die anderer Menschen – von Flinders’ Pension.«
Sybil Guthrie suchte nach Zwiebackkrümeln in ihrem Schoß und leckte
die fettigen Finger ab. »Mr. Appleby, ich halte das nicht mehr länger aus. Wir
müssen etwas unternehmen! Wo steckt Ranald Guthrie jetzt? Lauert er womöglich
mit der Schrotflinte hinter der nächsten Ecke?«
»Ich glaube kaum. Vor zwei Nächten war er in Kinkeig – wir müssen
herausfinden weswegen – man hat ihn gesehen –«
Wedderburn warf vor Verzweiflung die Hände in die Luft. »Das
Gespenst!«
»Das Gespenst war zweifellos er. Und wo Ranald jetzt gerade ist,
können wir erraten. Er mußte den Faden von Flinders’ Leben so schnell wie
möglich aufnehmen. Und alles war ja so geplant, daß ihm das so leicht wie
möglich war – wiederum die wunderbare Ökonomie des Puzzlespiels! Flinders war
ganz unauffällig nach Schottland gekommen und in einem großen Hotel in
Dunwinnie abgestiegen – einem Hotel, das aus den Nähten platzte vor Leuten, die
zum Eisstockschießen oder sonst einem Wintersport gekommen waren. Wenn Dr.
Flinders auf einen nächtlichen Ausflug ging und bei seiner Rückkehr sein Haar
ein wenig grauer oder sein Gesicht ein wenig runzliger geworden war, dann
bestand kaum eine Gefahr, daß jemand es bemerkte. Natürlich war es nicht
undenkbar, daß es noch unbekannte Faktoren gab, und ein wenig von einem
Glücksspiel blieb bei der ganzen Unternehmung. Aber wenn er erst einmal im
Hotel angelangt war, war Ranalds Position nicht schlecht. Er war Dr. Flinders,
unterwegs nach Kalifornien, mit allen wichtigen Papieren Dr. Flinders’ in der
Tasche. Es würde noch einmal kritisch werden, wenn er Dr. Flinders’ Finanzen
übernahm, doch mit ein paar kleinen Fälschungen würde das schon gelingen. Wir
können also davon ausgehen, daß er sich in Sicherheit wiegt. Wenn wir dafür
sorgen, daß nichts von unseren Plänen bekannt wird, werden wir ihn ohne
weiteres fassen.«
Es trat eine kleine Pause ein, bis Wedderburn einen großen Bissen
von seinem Zwieback nahm. Er kaute nachdenklich, und als er geschluckt hatte,
fragte er: »Und wie geht es weiter?«
»Als nächstes hören wir uns an, was Miss Guthrie zu sagen hat. Ich
glaube, es gab einen Augenblick, in dem sie Ranalds Pläne beinahe noch
durchkreuzt hätte.«
II.
Sybil Guthrie wandte sich zunächst an Wedderburn. »Vor allem tut
mir leid, wie unverständlich Ihnen mein Benehmen vorgekommen sein muß. Als Sie mir
erklärten, Lindsay habe nichts zu befürchten und ich müsse nur die Wahrheit sagen,
da haben Sie sich sicher gewundert, daß ich überhaupt nicht verstand, worauf Sie
hinauswollten – daß ich nur sagen konnte, es fiele mir furchtbar schwer, Ihnen zu
glauben. Aber Ihre Rekonstruktion des Falles – daß Guthrie Selbstmord begangen habe,
um es Lindsay anzulasten – konnte ich ja niemals glauben, und zwar aus dem einfachen
Grunde, weil ich wußte, daß sie falsch war. Ich hatte auf dem Wehrgang gestanden
und gesehen, wie ein Mann über die Brüstung gestürzt wurde. Als Sie heute nachmittag
den Sheriff von Ihrer Rekonstruktion überzeugten, da war mir klar, daß meine Lügen – das zweite Mal, daß ich gelogen hatte – es Ihnen möglich gemacht hatten, etwas
zu beweisen, was nicht die Wahrheit war. Mir war ein wenig unheimlich zumute. Das
falsche Telefon und die Schublade, die Lindsay, wie ich wußte, nicht aufgebrochen
hatte, das waren überzeugende Beweise. Ich meine, sie bewiesen tatsächlich, daß
Guthrie vorgehabt hatte, Lindsay zu belasten. Doch trotzdem wußte ich, daß Ranald
nicht Selbstmord begangen hatte. Ich hatte gesehen, wie der Mann, den ich für Ranald
hielt, umgebracht wurde. Und ich war überzeugt, daß Lindsay
der Mörder war. Natürlich hatte ich jetzt ein reines Gewissen. Ich mußte ja nun
davon ausgehen, daß Lindsay, als er die Kontrolle über sich verlor und Guthrie vom
Turm stieß, nur das getan hatte, womit Guthrie ihn mit seinem Plan ohnehin belasten
wollte. Nur so paßten Ihre Rekonstruktion und das, was ich gesehen hatte, zusammen.
Und auch wenn meine eigenen Vorstellungen von Moral mir sagten, daß kein Neil Lindsay
dafür hängen sollte, daß er ein dekadentes Scheusal wie
Weitere Kostenlose Bücher