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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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All das zeigt uns deutlich, was
Ranald vorhatte – vor hat , sollte ich besser sagen.
Richard Flinders ist als Ranald Guthrie gestorben: Ranald Guthrie wird als
Richard Flinders leben – ein Richard Flinders, der sich von seinen
medizinischen Forschungen und aus der Gesellschaft, in der er die letzten
zwanzig Jahre gelebt hat, zurückzieht und in aller Stille in Kalifornien von
einer Pension leben wird. Es ist, wie Ian uns sagen wollte, als er seinen
Bericht abbrechen mußte, ein durchaus vernünftiger, praktikabler Plan. Und wir
sollten auch hier wieder vermerken, wie attraktiv diese Lösung auf einer
symbolischen Ebene war. Vergleichen Sie die Leben der beiden Brüder, und Sie
werden feststellen, daß Ian das bessere Geschäft gemacht
hatte . Ian war stets, wie er selbst schrieb, ›in unserer Familie immer
der Tüchtigste gewesen‹. Ranald hingegen war ein ›neurotischer Charakter‹. Und
folglich –«
    »Ian«, unterbrach Wedderburn ganz unvermittelt, »wurde in die
Kolonien geschickt, weil er zu erfolgreich bei den jungen Frauen war; Ranald,
weil er davongelaufen war zu einer Arbeit, bei der man sich vor sich selbst
versteckt, indem man sich als jemand anderer ausgibt.«
    »Ein Umstand, wie geschaffen für den Psychologen. Und nicht lange,
da verschlimmert sich Ranalds Unterlegenheit – oder besser gesagt, sein
Unterlegenheitsgefühl – noch weiter. Ian rettet Ranald das Leben: Ranald läßt
Ian im Stich. In späteren Jahren bringt Ian es als Richard Flinders zu einem
angesehenen Leben zum Nutzen der Menschheit: Ranald führt ein sinnloses Leben
und wird immer mehr zum Sonderling. Doch nun wird aus Ranald
Ian! Dem erfolglosen Bruder gelingt es, sich mit dem erfolgreichen
Rivalen zu identifizieren und sich an dessen Stelle zu setzen.«
    Wedderburn ging ein paar Schritte die Galerie hinunter. »Mr. Appleby,
das ist alles vollkommen schlüssig. Wie seltsam dann, daß solche Motive dem
Strafgesetz praktisch unbekannt sind!«
    »Das liegt daran, daß diese Motive – außer bei wirklich Irrsinnigen – stets rationalisiert werden. Es gibt stets eine oberste Schicht, sozusagen,
mit einem Motiv, das nicht dem wirklich leidenschaftlichen, sondern dem
romantischen oder ökonomisch denkenden Menschen verständlich ist. Und mit
diesen oberflächlichen Motiven beschäftigen sich unsere Kriminalgerichte. Ein
solches Motiv gibt es auch hier; wir haben es nur noch nicht erörtert.« Nun war
ich an der Reihe, in der Galerie auf- und abzugehen. »Obwohl man es für meine
Begriffe eigentlich nicht oberflächlich nennen kann. Vielleicht ist es sogar
das Hauptmotiv, das hinter allem steckt.«
    Noel Gylby suchte in seinen Taschen nach Zigaretten und fand statt
dessen seinen Vorrat an gebuttertem Zwieback. Er verteilte sie an uns. »Motive
rechts von uns«, sagte er träumerisch, »Motive links von uns – Korrektur
unleserlich Korrektur unleserlich Korrektur unleserlich.«
    »Nehmen wir noch einen anderen wichtigen Punkt in Guthries Verhalten – und zwar den, in dem wir ihn echtem Wahnsinn am nächsten sehen: den Punkt, an
dem er in seiner ganzen pathologischen Größe erscheint. Er konnte sich als
Flinders ausgeben. Er konnte Kenntnisse über das Amerika, das Flinders gekannt
hatte, erwerben. Er konnte sich genug medizinisches Wissen aneignen, daß er
sich nicht verriet, wenn er unerwartet mit Medizinern zusammenkam. Doch eine große Schwierigkeit gab es. Der kalifornische Flinders
durfte keine offensichtlichen Charakterzüge zeigen, die nicht zu dem Flinders
aus Sydney paßten. Und einen solchen Zug – um es vorsichtig auszudrücken – hatte Ranald Guthrie. Er litt an einem seltsam zwanghaften Verhalten, das jedem
auf Anhieb auffallen mußte. Er war ein pathologischer Geizhals. Wenn er sich
als Flinders ausgeben wollte, stellte sich ihm die gewaltige Aufgabe, das
niederzukämpfen.«
    »Was doch gewiß unmöglich war?« Es war Sybil Guthrie, die da sprach.
    »Unmöglich, sollte man denken. Doch das hätte sein Wille niemals
zugegeben. Wir wissen, daß er sich darum bemühte – und wie grotesk seine ersten
Versuche waren, führt uns nur vor Augen, welch ungeheure Aufgabe er sich
gestellt hatte. Er dachte an seine Tafel, holte Wein aus dem Keller und ließ
Kaviar kommen. Aber die Hunde ließ er weiterhin hungern.«
    Wedderburn schmunzelte. »Selbst den guten Doktor.«
    »Ranalds Geiz war also das größte Hindernis bei seinem Plan. Aber
gibt uns das nicht auch den Hinweis auf ein Motiv, vielleicht das alles
entscheidende

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