Klagelied auf einen Dichter
wenn ich ihn um die Ecke des Wehrgangs noch hören konnte.
Denn von dort kam er: von der Seite der Brustwehr, zu der, wie ich jetzt weiß,
die Tür des kleinen Schlafzimmers führt.
Aufgeregt, wie ich war, malte ich mir aus, was da geschah. Als ich
mit angesehen hatte, wie Guthrie Lindsay beschimpfte, war mir, wie Sie
wissen, einen Moment lang selbst ganz mörderisch zumute gewesen; und ich war
sicher, daß die beiden Männer irgendwie hinaus auf den Wehrgang geraten waren
und miteinander stritten. Es war furchtbar gefährlich dort draußen, und
plötzlich hatte ich einfach genug von dieser ganzen Geschichte. Der ganze Irrsinn
von Castle Erchany: ich wollte das nicht mehr länger mitmachen. Ich
tastete mich den Gang entlang und wollte zu ihnen hinüberrufen, daß sie endlich
aufhören sollten.«
Noel Gylby bedachte Wedderburn und mich mit einem Blick, der uns
unverhohlen aufforderte, das zu bewundern. »Bravo!« sagte er.
»Natürlich war mir klar, daß ich die Lage womöglich ganz falsch
deutete. Trotzdem arbeitete ich mich bis zur Ecke vor. Und da war tatsächlich
einiges im Gange.
Aber was, das war nicht leicht zu erkennen. In einer Nische über der
Tür, die vom Schlafzimmer hinausführte, hatte jemand eine Lampe – eine
Sturmlaterne – aufgehängt. Unterhalb einer gewissen Linie lag alles im Dunkel;
ich konnte nur sehen, was darüber lag. Und das erste, was ich erblickte, war
Ranald Guthries Gesicht. In dem kurzen Augenblick sah ich, wie verzerrt es von
gewaltsamer Erregung war, und als sein Arm sich ins Licht reckte, sah ich, daß
er eine Axt in der Hand hielt. Ich rief laut und wollte ihn aufhalten. Und ich
glaube, er hörte mich, auch wenn das bei dem Sturm ja kaum denkbar war. Er
drehte sich blitzschnell um und trat einen Schritt zurück, aus dem Lichtkegel.
Einen Moment lang sah ich ihn noch als Schatten, dann beugte er sich, glaube ich,
hinunter, und ich sah nichts mehr. Ich spürte, daß etwas sich im Dunkeln
bewegte – ich glaube, ein Stöhnen und Laute, Worte vielleicht, waren zu hören.
Einen Moment später sah ich ihn wieder – oder besser gesagt den, den ich für
ihn hielt –; er stand aufrecht an der Brüstung, Kopf und Schultern nun ganz im
Lampenlicht. Nur einen Sekundenbruchteil sah ich ihn so, dann kam etwas
zwischen uns – die schwarze Silhouette eines Mannes, den ich natürlich für
Lindsay hielt. Ich muß gespürt haben, was kommen würde, denn ich rief von neuem
und tastete mich weiter vor. Der dunkle Rücken des Mannes regte sich und gab
nun wieder den Blick auf Guthrie frei. Doch nur einen Augenblick lang. Ein Arm
schoß hervor, und selbst in dem Sturm konnte ich den Schlag hören, den
Kinnhaken mit der bloßen Faust. Guthrie schwankte, stieß einen lauten Schrei
aus – den Schrei, den Noel im Treppenhaus hörte –, und dann stürzte er über die
Brüstung.« Sybil Guthrie erschauderte und zog den Mantel fester um sich. »Das
ist alles.«
Ich legte mein Büchlein nieder, in dem ich mir eifrig Notizen
gemacht hatte. »Alles, Miss Guthrie? Sie haben nicht gesehen, wie Ranald sich
durch die Falltür und die Wendeltreppe hinunter davonmachte?«
»Mehr habe ich nicht gesehen. Ich war sicher, daß ich mit angesehen
hatte, wie Lindsay meinen Vetter Ranald umbrachte, vielleicht in einer Art
Notwehr, um sich vor der Axt zu schützen. Und ich wollte ja Lindsay nicht
belasten. Ganz instinktiv machte ich kehrt und ging zurück zu der Tür, an der
ich gestanden hatte. Es war das beste, wenn die gräßliche Sache als Selbstmord
durchging: jedenfalls würde ich zunächst den Mund halten und abwarten.«
»Das hätte ich genauso gemacht«, fügt Noel Gylby eifrig hinzu.
»Und nun«, sagte ich, »liefert uns Ihr Bericht, statt daß er Lindsay
belastet, das Urteil gegen den Mann, von dem Sie glaubten, Lindsay habe ihn in
die Tiefe gestürzt. Für jemanden wie mich eine wunderbar kuriose Wendung. Der
Atem eines klassischen Kriminalromans, und die Auflösung genau an der richtigen
Stelle.«
Gylby nahm das mit einem bestätigenden, Wedderburn mit einem
ärgerlichen Brummen auf. Ich hatte es wohl hauptsächlich gesagt, um die
Anspannung, die nun in Sybil Guthries Zügen geschrieben stand, ein wenig zu
lindern. Ihre Nerven hatten einiges aushalten müssen, und nun, wo die Wahrheit
heraus war, spürte sie die Belastung. »Zumindest in einem Punkt«, fuhr ich
fort, »hat Ihre Aussage Ihren Vetter Ranald ja sogar entlastet.«
»Entlastet?«
»Von dem Vorwurf, er sei feige gewesen. Sie werden
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