Klagelied auf einen Dichter
Guthrie umgebracht hatte,
schon gar nicht wo er so herausgefordert worden war, wie ich es in den letzten Augenblicken
im Turm gesehen und gespürt hatte – na, unheimlich war es doch. Ich überlegte, ob
Lindsay womöglich durchschaut hatte, was Guthrie vorhatte, und ihn in seiner Wut
hinunterstürzte. Und ob man das denn nicht im Grunde doch als Selbstmord ansehen
konnte. Und ob es sich nicht für Lindsay gehört hätte, daß er die Wahrheit gesagt
hätte – das was ich für die Wahrheit hielt – und dazu gestanden hätte.« Sybil Guthrie
zögerte, schien nach Worten zu suchen. »Ich meine, so eine Gerichtsverhandlung,
die beeindruckt einen ja immer irgendwie mit ihren großen Idealen – daß die Wahrheit
ans Tageslicht muß und so weiter. Jedenfalls fiel es mir nicht leicht, hinterher
zu Lindsay hinzugehen und ihm die Hand zu schütteln. Ich fand, daß wir beide
nicht gerade aufrichtig dabei waren.«
Ich weiß nicht, ob ich schon gesagt habe, daß Sybil Guthrie eine
große Schönheit ist. »Nun – Ende gut, alles gut!« meinte Noel Gylby munter.
Worauf ich erwiderte – das beste, was mir einfiel, um mich so gut
wie möglich von dieser leichtfertigen Einstellung zu distanzieren: »Miss
Guthrie, bevor Ihnen beim Sheriff diese Gedanken durch den Kopf gingen – hatten
Sie da irgendwelche Zweifel oder Skrupel?«
»Nein, Mr. Appleby. Im Gegensatz zu Ihnen verpflichtet mich ja
nichts zu einer konventionellen Vorstellung von Wahrheit. Nur einen einzigen
Zweifel hatte ich.«
Gylby schlug sich an den Kopf. »Der Sekretär.«
»Ja. Für eine Weile brachte mich die aufgebrochene Schublade ins
Schwanken. Wenn es denkbar war, daß Lindsay das Gold gestohlen hatte, dann
konnte er – ganz gleich, was er hatte erdulden müssen – nicht mehr auf meine
Unterstützung rechnen. Aber ich war mir ja sicher, daß er nicht einmal in die
Nähe des Sekretärs gekommen war. Ich glaube, ich habe es zu Noel schon gesagt
oder jedenfalls Andeutungen gemacht, daß die Schublade die Sache nur noch ein
wenig rätselhafter machte – die Frage, was denn nun eigentlich geschehen war.
Für meine moralischen Bedenken spielte sie keine Rolle.«
Wedderburn beugte sich vor und ergriff die Hand seiner Mandantin.
»Meine Liebe, ich fürchte, Sie werden es demnächst mit rein praktischen
Bedenken zu tun haben, wenn Sie Ihre moralischen dem Hohen Gericht begreiflich
machen wollen. Bei Ranald Guthries Prozeß.«
Sybil reckte das Kinn. »Wenn ich Vetter Ranald auf der Anklagebank
sehen kann, dann nehme ich schon in Kauf, daß ich keine gute Figur dabei
mache.«
Ganz und gar unlogisch, fand ich – denn warum sollte sie einen
jungen Mann mit schwachen Nerven wie Lindsay in Schutz nehmen, nur um einen
alten Mann wie Guthrie zu hetzen, der mit seinen ebenso schwachen Nerven am
Ende war? War denn Guthrie nicht genau der Fall fürs Sanatorium, zu dem auch
Lindsay geworden wäre, wenn zu einem bestimmten Punkt seines Lebens ein
bestimmtes Quantum an Belastung überschritten worden wäre? Ich verfolgte diese
Frage nicht weiter – die Probleme, die von der modernen Psychologie der
Strafjustiz bereitet werden – und wandte mich lieber den konkreten Fragen zu,
die Miss Guthrie aufwarf. Wie Kollege Speight so treffend gesagt hatte, ein
feines Mädchen. Obwohl Speight inzwischen womöglich sein Urteil ein wenig
modifiziert hätte. »Jetzt«, sagte ich, und es war wie ein Echo von Wedderburns
väterlichen Tönen, »sollten Sie uns aber wirklich erzählen, was Sie oben auf
dem Turm gesehen haben.«
»Das ist schnell getan. Ich habe genau das gesehen, was ich bereits
berichtet habe: die beiden unterhielten sich, Guthrie sagte irgendwelche
Gemeinheiten zu Lindsay, Lindsay verschwand durch die Tür zum Treppenhaus,
Guthrie durch die Tür zum Schlafzimmer – die beiden Türen, die, wie Mr. Wedderburn festgestellt hat, ich ja nicht richtig sehen konnte. Erst danach
habe ich zu lügen angefangen, und zwar einfach dadurch, daß ich Sachen
ausgelassen habe.«
»Hier, ich habe noch ein Stück Schokolade«, sagte Gylby eifrig und
reichte es Miss Guthrie.
Miss Guthrie nahm einen Bissen. »Da fangen die Lügen an. Ich stand
vielleicht noch zwanzig Sekunden lang da und blickte in die leere Studierstube,
unentschlossen, ob ich mit einem kurzen Sprint durchs Zimmer meine Flucht wagen
sollte. Dann hörte ich etwas. Es herrschte, wie Sie wissen, nach wie vor ein
heftiger Sturm dort oben: ich hörte einen Schrei oder Ruf – und er muß ziemlich
laut gewesen sein,
Weitere Kostenlose Bücher