Klagelied auf einen Dichter
sich erinnern,
daß Mr. Wedderburns Theorie zwei Punkte aufführte, in denen Ranald versagt
hatte. Er hatte einen Schrei nicht unterdrücken können, als er sich in die
Tiefe stürzte. Und auch beim wichtigsten Punkt seines Planes hatte er nicht den
Mut gehabt, ihn auszuführen, bei dem, was Lindsay in den Augen der Landleute am
meisten belastet hätte: er hatte den entsetzlichen Akt nicht fertiggebracht,
sich in den letzten Sekunden seines Lebens die Finger abzuhacken. Und je näher
wir der Wahrheit kamen, desto rätselhafter wurde dieser letzte Punkt. Hatte er
es im letzten Moment doch nicht fertiggebracht, Ian das anzutun – Ian, der,
darf man annehmen, mit Betäubungsmitteln gefügig gemacht war, so daß er beim ersten
Hieb stürzen würde? Doch jetzt wissen wir, daß er keineswegs vorhatte, Milde
walten zu lassen; es war nur Ihr erster Schrei, der ihn von seinem
Vorhaben abbrachte. Und die Art, mit der er darauf reagierte, ist unser
letzter und bester Beweis für seine unglaubliche Geistesgegenwart.
Führen Sie sich vor Augen, was geschah: Ranald steht da, Ian vor
sich zusammengekauert im Schnee. Er hat die Axt erhoben. Doch gerade in diesem
besonders abscheulichen Moment seines Verbrechens hört er hinter sich einen Schrei.
Jemand ist auf der Brustwehr. Ist Ranald gelähmt vor Schrecken? – nicht eine
Sekunde lang. Die Situation ist verzweifelt, doch er kann sie noch retten. Nur
ihn, Ranald, kann der Beobachter bisher ge sehen haben. Er wirft die Axt über die Zinnen, drückt sich ins Dunkel, ergreift den
Körper seines Bruders und hält ihn aufrecht – hält ihn ins
Licht . Dann, er selbst nur eine schwarze Silhouette, schlägt er zu. Der
unerwartete Beobachter, wer immer er sein mag, kann nichts von Ian Guthrie
wissen; er sieht, wie Ranald Guthrie umgebracht wird, doch
den Mörder sieht er nicht. Wenn Ranald nun noch über die Wendeltreppe
entkommen und dabei die Lampe mitnehmen und löschen kann, dann kann ihm sein
Plan immer noch gelingen. Der Wind wird binnen kurzem alle Spuren, daß die
Falltür geöffnet wurde, verwischen; der Beobachter wird nicht beschwören
können, daß der Mörder nicht doch im Dunkeln durch das Schlafzimmer und die
Haupttreppe hinunter entkam – auf der ja zwei oder drei Sekunden später
plangemäß ein Zeuge Lindsay sehen wird. Die Argumente gegen Lindsay waren also
noch stärker, als Ranald je hatte hoffen können, denn daß es Mord gewesen war,
daran konnte nun überhaupt kein Zweifel mehr bestehen. Selbst in Todesgefahr
erwies sich Ranald Guthrie als ein Mann, der niemals aufgibt.«
»Und dafür nicht nur den einen unschuldigen Menschen auf dem
Gewissen hat«, sagte Wedderburn, »sondern beinahe noch einen zweiten umgebracht
hätte.« Er erhob sich, ein stattlicher alter Herr, nun ganz belebt vom Feuer
seiner Leidenschaft. »Aber wir werden ihn zur Strecke bringen! Das war der
letzte Trick, den Ranald Guthrie uns gespielt hat.«
Von irgendwo tief unten erschütterte das häßliche Scheppern einer
großen rissigen Glocke die verlassene Burg.
III.
Es war der junge Anwalt Stewart, zurück aus Dunwinnie. Wir
hatten ihn vollkommen vergessen gehabt, und als er die Tür verschlossen fand,
hatte er zu der Sturmglocke im Hof Zuflucht genommen. Begleitet wurde er von
Dr. Jervie, dem Pfarrer.
Eng zusammengedrückt kamen wir die Treppe hinunter, voller nervöser
Anspannung, und als wir in den flackernden Schatten des Großen Saales standen,
müssen sie wohl schon in unseren Gesichtern gelesen haben, daß es mit den
Geheimnissen des Ortes eine jähe Wendung genommen hatte. Doch beide hielten
ihre Neugier im Zaum, und erst nachdem Gylby ein Feuer im Schulzimmer entzündet
hatte – woran wir schon lange vorher hätten denken sollen –, fragte Stewart:
»Es gibt Neuigkeiten?«
Wedderburn nickte. »Unglaubliche. Ranald Guthrie ist noch am Leben.«
Stewart war fassungslos. Doch meine Aufmerksamkeit galt eher Dr.
Jervie. Er hatte sich gesetzt und starrte in die ersten Flammen, die eben im
Kamin aufsprangen; und ich glaube, nie im Leben habe ich ein traurigeres
Gesicht gesehen. Bei Wedderburns Worten blickte er einen Moment lang auf wie
jemand, der, in tiefes Nachdenken versunken, ein Faktum zur Kenntnis nimmt, das
ihm nichts weiter bedeutet.
»Guthrie lebt? Dann habe ich also doch kein Gespenst gesehen.«
» Sie haben das Gespenst gesehen!«
»Ja. Ihre Informantin hat es vielleicht nicht erwähnt? Wissen Sie,
die Leute halten es für selbstverständlich, daß ein Gespenst
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