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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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nicht noch jemand hier heraus … werfen Sie mir ein Seil zu, so schnell wie möglich!« Dann rief er in die
andere Richtung: »Guthrie, halten Sie sich fest, ich komme!«
    Ich wußte, daß er recht hatte. Wenn Guthrie, wie zu vermuten war,
halb besinnungslos von dem kalten Wasser war, dann war die einzige Hoffnung,
ihn noch herauszubekommen, daß wir so wenig Druck wie möglich auf das
umliegende Eis ausübten: wenn das Eis über breite Flächen brach, würde eine
Rettung selbst an diesem hintersten, schmalsten Ende des Sees unmöglich. Im
Augenblick konnten wir nur dastehen und zusehen, bereit zur Hilfe, wenn auch
Lindsay einsank. Und wieder knackte das Eis unheilkündend. Ich streifte meine
Schuhe und Kleider ab. Wir würden tauchen müssen, bevor diese Angelegenheit zu
Ende war.
    Christine kam mit einem zusammengerollten Seil gelaufen. »Sonst habe
ich nichts gefunden«, sagte sie ruhig. »Und ich glaube nicht, daß das reicht.«
    Ich blickte das Seil an, dann Lindsay. Er war auf etwa halbem Wege
zu seinem Ziel. »Am besten machen wir eine Probe«, sagte ich, »dann wissen wir,
ob es hält.« Gylby und ich rollten es eilends auf und zerrten, Stück für Stück,
daran, um zu sehen, wieviel es aushielt. Es schien stabil, doch ich hatte wenig
Vertrauen: es war eigentlich nur eine Wäscheleine. Und viel zu kurz für die
gesamte Eisfläche. Mit Glück würde es gerade bis zu der Stelle reichen, an der
Guthrie eingebrochen war.
    Wir hörten Lindsays Stimme – ruhig und voller Selbstvertrauen.
»Halten Sie fest, Mann, dann holen wir Sie da schon heraus. Ist das denn die
Zeit für ein Bad im Loch Cailie, um Mitternacht im Winter?«
    Christine hielt den Atem an, sie starrte hinaus auf das Eis. »Er
sieht ihn«, sagte ich. »Es geht nicht anders: ich muß mit dem Seil nach vorn.«
    »Ich bin leichter als Sie«, wandte Gylby noch ein, doch ich kroch
schon hinaus, Lindsay nach. Guthrie war offenbar bei Bewußtsein und klammerte
sich an einen Eisrand, der noch nicht brüchig war; Lindsay hatte ihn fast
erreicht; ich war zuversichtlich, daß ich das Seil bis zu ihnen hinausbringen
konnte. Nur einmal spürte ich, wie das Eis unter mir riß, und wäre nicht immer
wieder ein bedrohliches Beben über die ganze Fläche gelaufen, so hätte ich mich
nicht weiter in Gefahr gefühlt. »Ich habe ihn«, rief Lindsay mir zu. »Werfen
Sie mir das Seil zu, aber kommen Sie nur so nahe heran wie unbedingt nötig.«
Vorsichtig arbeitete ich mich auf Hände und Knie, dann warf ich. Das Eis
knackte von der heftigen Bewegung, doch als ich mich wieder auf den Bauch
legte, blieb es ruhig. Wieder kam Lindsays Stimme herüber: »Hab’ es. Kriechen
Sie jetzt zurück und ziehen Sie vorsichtig, wenn ich es sage.«
    Ich kroch zurück, so schnell ich konnte, und spürte dabei, wie das
Beben im Eis immer stärker wurde. Lindsay rief, bevor ich das Ufer erreicht
hatte. Einen Moment lang stemmten wir uns gegen das Gewicht – und es war ein
Gewicht, für das unser Seil niemals bestimmt gewesen war. Dann bewegte es sich.
»Er ist draußen!« rief Lindsay triumphierend. »Jetzt langsam und gleichmäßig.«
    Ich spürte das Beben des Eises nun auch als eine leichte Vibration
in der Luft, wie ein leises, gespenstisches Stöhnen. Und kaum hatten wir den
fast leblosen Körper in Sicherheit gebracht, wurde es lauter. Ein Wind kam den
See herauf. Ich hörte Lindsays Stimme, eilig, doch besonnen: »Noch einmal das
Seil – wenn es noch geht.« Schon in der nächsten Sekunde wurde das Rauschen
dieses raschen, tückischen Windes übertönt von dem Getöse des Eises, das nun
auf ganzer Fläche brach.
    »Lindsay!«
    Keine Antwort. Ein einziger Blick auf Christine Mathers genügte, und
ich lief hinaus auf das wogende Eis.

VI.
    Die Kälte des Wassers spüre ich bis heute in den Knochen. Und
noch mehr, könnte ich mir vorstellen, spürt Noel Gylby sie. Nur Sekunden, und
er war ebenfalls draußen, und er suchte noch eine ganze Stunde lang, nachdem er
mich aus dem Wasser geholt hatte. Was mich vor allem quält, das ist der Maßstab
der ganzen Sache, der wie ein Hohn auf all unsere Mühen ist. Als wir bei
Tageslicht hinausgingen, sahen wir, wie schmal dieser letzte Zipfel des Sees
ist. Er ist nicht einmal allzu tief. Und wir kämpften gegen Eisstückchen,
die ein Junge hätte herausholen und an einem Stein zerschmettern können. Und
doch bin ich überzeugt, daß wir getan haben, was wir konnten. In diesem
plötzlichen, böigen Bergwind wurden das eiskalte Wasser und die

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