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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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Lindsay keinen
schottischen Adligen mehr heiraten kann. Und nach Neil Lindsay könnte es wohl
auch kein anderer Bauernjunge sein. Aber nun ist sie in der Neuen Welt. Und
sehen Sie doch nur, wie sie sich schon jetzt all dem Fremden öffnet, wie sie
aus ihrem Schneckenhaus herauskommt und beobachtet und sich wundert und
kritisiert. Der Tag wird kommen, an dem sie nicht nur das Fremdartige, sondern
auch das Schöne daran sieht, und dann –« Er erhob sich. »Aber ob wir das noch
erleben, alter Freund?«
    Und heute bin ich das Tal heraufgewandert. Achtzehn Monate sind
vergangen, seit ich zum ersten Mal zur Feder gegriffen und diese Erzählung auf
den Weg gebracht habe. Ich möchte sie gern im Schatten von Castle Erchany zu
Ende schreiben.

II.
    John Appleby, unser scharfsinniger Londoner, besteht darauf, daß
er im Fall Guthrie versagt habe. Den einen Punkt, der am Ende alles in ein
gänzlich neues Licht rückte, den habe er nicht gesehen. Die eine entscheidende
Frage habe er, sagt er, nicht gestellt. Doch der Leser weiß, daß er sie stellte – und daß er an jenem Abend darauf zurückgekommen wäre, wenn sich die
Ereignisse nicht dermaßen überschlagen hätten. Wer war es,
den Hardcastle und der junge Gylby auf dem Weg zum Turm aus dem Schulzimmer
schlüpfen sahen? Der Leser kennt die Antwort. Es war Ewan Bell.
    Ich hatte lange über dem seltsamen Brief von Christine gebrütet, den
mir der Schwachkopf Tammas gebracht hatte. Aber ich bin ein alter Mann und
nicht mehr gar so schnell mit meinen Gedanken, und es war Heiligabend, bis ich
wirklich begriff, daß dieser Brief im Grunde, vielleicht ohne daß Christine es
überhaupt selbst wußte, ein Hilferuf war. Und selbst da nahm dieser Gedanke
noch keine wirklich deutliche Gestalt an, denn als ich mich in der
Abenddämmerung auf den Weg das Tal hinauf machte, da glaubte ich, ich täte es,
um ihr Lebewohl zu sagen. Doch unterschwellig erkannte ich die Bitte, und noch
tiefer drinnen spürte ich wohl auch die Gefahr: sonst hätte ich nicht einen
Marsch auf mich genommen, dessen Gefahren ja selbst wahnwitzig genug waren.
    Ich rechnete damit, daß ich gegen acht Uhr am Herrenhaus sein und
mich für die Nacht Guthries Gastfreundschaft anempfehlen würde, oder ich
konnte, wie es seinerzeit die Lehrerin beinahe getan hätte, auf dem Heuboden im
Bauernhof schlafen. Doch kalkulierte ich mit Kräften, die ich als Jüngerer
einmal gehabt hatte. Mit mehr Glück als Verstand fand ich in jener Sturmnacht tatsächlich
nach Erchany, aber es fehlte nur noch eine halbe Stunde bis Mitternacht, als
ich das letzte Stückchen des Fahrwegs hinaufstapfte, und das Licht meiner
Sturmlaterne war kaum mehr als ein Glimmen im unablässigen Wirbel der
Schneeflokken. Im Schulzimmer brannte Licht; ich kletterte in den Graben und
von dort unter einigen Mühen hinauf zu der kleinen Terrasse. Mr.   Wedderburn
hatte ganz recht, als er in mir die traurigen Überreste eines Athleten
erkannte; obwohl ich ein wenig Muskelkraft offenbar doch noch habe.
    Heute kommt es mir seltsam vor, daß ich so heimlich bei Christine
ans Fenster klopfte, doch es zeigt nur, wie instinktiv ich Guthrie mißtraute.
Sie ließ mich durch die Terrassentür ein, und ich spürte, wie froh sie war, daß
ich gekommen war. Neben sich hatte sie einen winzigen Koffer – nicht größer als
Mistress McLarens Handtasche beim Kirchgang –, und ein Regenmantel hing über
der Stuhllehne. »Du willst doch nicht heute nacht noch fort?« fragte ich.
    Doch sie nickte. »Mein Onkel will es so. Und Neil sagt, wir können
gut bis nach Mervie kommen. Er ist gerade beim Onkel oben im Turm, und wenn er
herunterkommt, müssen wir gehen. Es wird doch alles gut, nicht wahr, Ewan
Bell?«
    Sie war viel zu verliebt, als daß sie mehr als solche vagen Ahnungen
aufkommen ließ, daß vielleicht etwas nicht geheuer war – daß im Kern der ganzen
Unternehmung etwas Irrsinniges, Sinistres lag. »Ich werde nach oben gehen und
mit ihnen sprechen, Christine«, sagte ich. »Und wenn dein Neil herunterkommt,
dann ab mit euch beiden, und schreib’ einmal.« Und ich küßte sie zum Abschied.
Ich muß mir wohl vorgestellt haben, daß ich den beiden hier den Rücken decken
könnte, wenn sie fort waren. Daß ihnen das Unheil schon beim Aufbruch drohte,
darauf kam ich nicht.
    »Nimm die kleine Wendeltreppe, dann gehst du Hardcastle aus dem
Weg«, sagte Christine. Sie holte mir einen Schlüssel, für den Fall, daß die
untere Tür verschlossen war.
    Ich schlüpfte aus dem

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