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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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alten Herrn, der seine eigenen
Ansichten zu Fragen wie Blut und Rasse hatte. Sir Hector ist seit fünfzehn
Jahren tot, und für die gegenwärtige Intrige hatte Guthrie nichts von ihm zu
befürchten. Doch er hat seine Rechnung ohne Lady Anderson gemacht – mit der er
auch kaum rechnen konnte, denn immerhin ist sie inzwischen über neunzig. Sie
kannte die Wahrheit, obwohl sie nie jemandem davon erzählt hat. Und auch heute
noch weiß sie über alles Bescheid, was in der Gegend geschieht. Als sie erfuhr,
daß Neil und Christine gemeinsam davonlaufen wollten, handelte sie sofort. Daß
Stewart am späten Nachmittag so eilig fortmußte, lag an dem Anruf, den er aus
Dunwinnie Hall bekommen hatte. Er wußte alles.«
    »Aber die Erinnerung einer so alten Dame –«
    Jervie schüttelte den Kopf. »Sie hat eine Reihe von Briefen, die es
belegen. Nicht viel an Details, doch die Tatsache geht eindeutig daraus
hervor.«
    »Dr.   Jervie«, sagte Sybil Guthrie, »bisher weiß es noch niemand,
oder? Sie werden es doch – schonend beigebracht bekommen?«
    »Nein, bisher weiß es niemand. Und erfahren werden es die beiden von
mir.«
    »Wieso müssen sie es denn wissen?« fuhr
Gylby geradezu heftig dazwischen. »Es ist doch gar keine echte Verwandtschaft – wo keiner von ihnen etwas ahnt! Das muß es doch schon Hunderte
von Malen gegeben haben, und keiner hat je etwas erfahren und keiner hatte je
einen Schaden davon.«
    Ich legte ihm die Hand auf den Arm. »Das geht nicht, Gylby – glauben
Sie mir. Beim Prozeß gegen Ranald wird es ans Tageslicht kommen. Selbst wenn
alle Stillschweigen bewahren – Lady Anderson und wir alle hier –, können wir
fast sicher sein, daß Ranald es am Ende preisgeben wird. Es wäre der einzige
Triumph, der ihm noch bliebe, und wahrscheinlich würde er dann sein Schweigen
brechen.«
    Sybil Guthrie sprang auf und kam zu mir. »Aber Mr.   Appleby, wieso
können wir denn nicht einfach gar nichts tun? Im Augenblick glauben noch alle
an Mr.   Wedderburns Lösung. Ranald ist fort, unbemerkt, ein Pensionär in
Kalifornien. Lindsay muß nicht mehr fürchten, daß er am Galgen baumelt. Er und
Christine haben schon ihre Pläne für Kanada –« Sie brach ab, wandte sich
plötzlich hilfesuchend an Dr.   Jervie. »Dr.   Jervie, wäre das nicht das Beste für
alle?«
    Jervie ging zum Fenster und blickte hinaus. Ohne sich umzudrehen,
sagte er leise: »Nein.«
    Die Debatte konnte zu nichts führen. Ich versuchte sie aufzuhalten.
»Solche Überlegungen können wir uns sparen. Von der ethischen Seite einmal ganz
abgesehen, würde es auch einfach nichts nützen. Ranald würde die Dinge im Auge
behalten. Wenn er feststellte, daß seine Intrige gegen Lindsay fehlgeschlagen
ist und daß die beiden auf dem Wege nach Kanada sind, würde er gewiß dafür
sorgen, daß sie die Wahrheit erfahren.«
    »Finden Sie Ranald«, sagte Sybil. »Handeln Sie mit ihm. Unser
Schweigen gegen sein Schweigen.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Er ist ein alter Mann. Auf dem Sterbebett
könnte er sein Wort brechen. Und daß die beiden erst nach Jahren der Ehe die
Wahrheit erführen – das können wir nicht verantworten. Schon deswegen, weil wir
nicht wissen, wie sie unser Schweigen beurteilen würden. Es gibt keinen
einfachen Ausweg.«
    Vom Fenster sagte Jervie, jetzt mit ganz anderer Stimme: »Da kommt
jemand.«
    Ich ging zu ihm hin, und wir traten beide wieder hinaus auf die
kleine Terrasse. Ein Automobil näherte sich der Burg; die Scheinwerfer, nur
schwach im Mondlicht, strichen den schmalen Arm des Sees entlang, der fast bis
zum Burggraben reichte. Einen Moment lang streiften die Lichter uns und folgten
dann im Bogen der Auffahrt um den gefrorenen Wasserlauf. Dann blieben sie stehen.
»Das ist die kleine Senke an der letzten Kurve«, sagte Jervie. »Der Schnee war
schon halb getaut, als wir kamen; wahrscheinlich kommt der Wagen nicht mehr
durch.« Eine Minute darauf erschienen zwei Gestalten am anderen Ufer des Arms,
kletterten hinunter und überquerten mit raschen Schritten das Eis. Als sie aus
dem Schatten traten, erkannten wir im Mondlicht Neil Lindsay und Christine
Mathers.
    Sie gingen Hand in Hand. Ich glaube, sie waren übermütig – es war
leichtsinnig, daß sie die Abkürzung über das Eis nahmen. Es knackte an allen
Ecken; sie mußten unter ihren Füßen spüren, wie es nachgab; sie liefen umso
schneller, und ich glaube, ich hörte sogar ihr Lachen dabei. Sie waren jung und
stark, und erst ein paar Stunden zuvor waren sie dem

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