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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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ja oft. Und ein gewisser Wat Lindsay, Neils Vater, trat – schon ein
verheirateter Mann, kurz nach Neils Geburt – bei ihr in Dienste. Christine war –«
    Plötzlich, als seien alle Dämme gebrochen, begann Sybil Guthrie
heftig zu weinen. Jervie ließ ihr ein paar Augenblicke Zeit, dann fuhr er mit
sanfter Stimme fort. »Christines Mutter starb in einer einsamen Hütte bei der
Geburt des Kindes. Ranald Guthrie nahm das kleine Mädchen bei sich auf,
verschleierte aber seine Herkunft mit all dem Raffinement, die wir inzwischen
von ihm kennen. Natürlich hätte man dem Geheimnis nachgehen können: Mr.   Wedderburn wird gewiß sagen, daß Ranalds Erbe nach seinem angeblichen Tod nicht
hätte geregelt werden können, ohne daß die Wahrheit dabei ans Licht gekommen
wäre. Doch Ranald war besessen, und das setzte selbst einem so scharfen
Verstand Grenzen. Alles kam ihm darauf an, daß das, was für ihn eine
unaussprechliche Schande war, niemals entdeckt wurde.
    Und folglich war es Stolz, nicht Habgier, was ihn zur schlimmsten
aller Schandtaten trieb. Es wäre ja nicht notwendig gewesen, daß jemand
außerhalb der Familie von dem Geheimnis erfuhr. Hätte er, als er sah, daß Neil
und Christine sich liebten, den beiden alles erklärt, so wäre das zwar sehr
schmerzlich gewesen, aber keine wirkliche Katastrophe. Doch offenbar brachte er
es nicht über sich. Ein Fall für die Psychologen, mit denen Mr.   Appleby sich so
gern beschäftigt: eine Hemmung, die durch nichts zu überwinden war. Er konnte
nicht darüber sprechen: und zugleich wußte er doch, daß er die Heirat nur
verhindern konnte, wenn er darüber sprach. Hier haben wir also den Grund für
seinen Haß auf Lindsay – das Motiv dafür, nach dem Mr.   Appleby suchte. Ich
glaube, jeder von uns kann es spüren: wie Furcht, Wut und Entsetzen in ihm
immer stärker wurden. Er sah es vor sich, wie die beiden jungen Leute in
Sünde leben würden – unwissentlich, wenn es so etwas wie eine unwissentliche Sünde
geben kann –, einer Sünde, die dem neurotischen Verstand von jeher als ganz
besondere Abscheulichkeit vorgekommen ist. Er ist verantwortlich, und er kann
es nur verhindern, indem er spricht – oder etwas unternimmt. Und sprechen kann
er nicht.«
    Sybil Guthrie erhob sich, die Tränen nun wieder getrocknet. »Wo ist
Christine? Kann ich ins Dorf fahren und –«
    Jervie schüttelte den Kopf. »Dafür ist morgen früh noch Zeit.
Christine ist im Pfarrhaus und schläft wahrscheinlich längst – und Lindsay
übernachtet bei Ewan Bell.
    Wie gesagt, Guthrie brachte es nicht über sich zu sprechen. Und
deshalb mußte er handeln. Die Schuldgefühle, an denen jemand wie er gewiß
besonders litt und die im Laufe der Jahre größer und immer größer geworden
waren, je mehr seine Feigheit und sein Verrat in Australien ihn quälten, würden
sich nun, stelle ich mir vor, an Lindsay entladen. Er würde sie auf Lindsay
projizieren – Lindsay, dessen Vater ja in gewissem Sinne eine Guthrie betrogen
hatte, Lindsay, der nun aus Sturheit geradewegs auf eine Todsünde
zumarschierte. Nichts anderes war der Situation angemessen, nichts anderes
konnte sie noch retten, als Lindsays Tod.»
    »Wie Christine einmal von ihm gesagt hat«, fügte Noel Gylby mit
recht heiserer Stimme hinzu, »etwas so Extremes hätte er nur gegen ein anderes
Extrem gesetzt. Oder was er für extrem hielt.«
    »Und damit«, fuhr Jervie fort, »ergibt sich eine ganz neue
Perspektive, aus der wir unser Puzzle betrachten können. Mr.   Appleby hat es so
verstanden, daß Ranald den jungen Lindsay für das Komplott gegen seinen Bruder
benutzte; so wie ich es sehe, benutzte er eher seinen Bruder für das Komplott
gegen Lindsay.« Wieder machte er seine erschöpfte Handbewegung. »Für den
Kriminologen ist es wahrscheinlich ein hübscher Fall.« Er stand auf. »Ich muß
Kräfte sammeln für die Aufgabe, die mir morgen bevorsteht.«
    Auch Wedderburn erhob sich. »Jervie, sind Sie sich dieser Dinge
sicher? Es kann keine Zweifel geben, daß das, was Sie uns da erzählt haben, die
Wahrheit ist?«
    »Ich fürchte, nein. Lassen Sie sich erklären, wie wir darauf
gekommen sind. Wir haben noch nicht nachgeforscht, ob für die Geburt des Kindes – Christines – falsche Angaben gemacht wurden. Doch ganz gleich wie Guthrie es
angestellt haben mag, kann er den Eintrag nicht ohne Hilfe von höherer Stelle
ins Amtsregister geschmuggelt haben. Diese Hilfe bekam er von Sir Hector
Anderson von Dunwinnie, einem exzentrischen

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