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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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schwimmenden
Schollen zu einer kleinen arktischen Hölle. Und vom unteren Ende des Sees sog
eine kräftige Strömung, die uns immer wieder unter die geschlossene Eisfläche
zu ziehen drohte. Erst Tage später fand man Neil Lindsays Leichnam.
    Ich hatte mich am Kopf verletzt; dazu kam die Erschöpfung, und ich
muß eine ganze Weile bewußtlos gewesen sein. Als ich zu mir kam, standen
Wedderburn mit einem Brandyfläschchen und der Schuster Ewan Bell über mich
gebeugt. Ich richtete mich auf, so gut es ging, und stammelte meine Frage.
    Wedderburn schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, da ist keine Hoffnung
mehr. Er ist ertrunken.«
    »Miss Mathers?«
    »Miss Guthrie und Jervie haben sie ins Haus gebracht.«
    Ich drehte mich zur Seite und sah neben mir den Geretteten liegen.
Er rührte sich. Ich glaube, auch in der Bewußtlosigkeit hatte mein Verstand
sich nur mit der unmittelbaren Gefahr, mit dem Versuch zu retten beschäftigt.
Erst jetzt begriff ich allmählich, was für eine Tragödie ich da erlebt hatte,
und es stand wohl in meinen Zügen geschrieben. Denn Wedderburn sagte:
»Wenigstens können wir jetzt auf einen besseren Zeitpunkt warten, bevor wir es
ihr sagen.«
    Voller Ungeduld richtete ich mich auf. »Ranald Guthrie«, sagte ich;
»noch immer machen Sie die Rechnung ohne ihn.«
    Bell ging hinüber zu der Gestalt, die da am Boden lag, und hielt
eine Lampe hoch. Dann ergriff er den Arm, die Hand des Mannes und hielt sie ins
Licht – eine Hand, die, offenbar schon vor Jahren, mehrere Finger verloren
hatte. »Das ist Ian Guthrie«, erklärte er. »Ranald ist tot.«
    »Tot! Aber sind Sie sicher?« Mir verschwamm alles vor den Augen, und
ich starrte ihn verständnislos an.
    Der alte Mann richtete sich auf. »Da bin ich mir sicher. Ich habe
ihn getötet.«

SIEBTER TEIL
    Eine Nachschrift von Ewan Bell

I.
    Gestern kam ein Brief von Christine. Der Poststempel – Cincinnati, Ohio  –, der noch vor einem Jahr so fremd war,
ist mir längst vertraut: schier unglaublich, wie schnell selbst ein alter Mann
sich an jede Veränderung gewöhnt.
    Bei den Leuten von Kinkeig kann man allerdings lange warten, daß
sich etwas ändert. Mistress Johnstone, die Postmeisterin, brachte den Brief
höchstpersönlich und stand bald zehn Minuten im Laden, plötzlich sehr
interessiert an anderer Leute alten Schuhen. »Machen Sie Ihren Brief ruhig
schon auf, Mr.   Bell«, sagte sie, »und kümmern Sie sich gar nicht um mich.« Und
eine halbe Stunde darauf kam unsere Lehrerin herein, die Nase vielleicht noch
ein winziges Stückchen länger als an dem Wintertag, an dem sie das Tal hinauf
zum Herrenhaus radelte. Ob ich nicht eine Eintrittskarte für ein großartiges
Schauspiel kaufen wolle, kam sie fragen, das die Kinder im Kirchensaal
aufführten, ein Spiel voller Selbstverwirklichung und Kinderpsychologie,
verfaßt vom Klassenbesten, einem wahren Wunderkind, dem kleinen Geordie Gamley?
Und waren vielleicht dieser Tage Nachrichten aus der großen weiten Welt nach
Kinkeig gekommen?
    Und vor ein oder zwei Wochen kam ein anderer Brief aus Amerika,
der Poststempel nicht ganz so vertraut: San Luis Obispo,
Cal. Einen heidnischeren Namen als das, meinte Mrs.   Johnstone, könne man
sich ja wirklich kaum vorstellen. Womöglich sogar von einem Schwarzen? Ich
öffnete den Brief und sagte nein, er sei von einem alten Schulfreund, den es in
diesen Teil der Welt verschlagen habe. Was ja auch nicht gelogen war. Denn Dr.
Flinders schrieb mir, wie gut er sich noch der Zeiten entsann, als wir beide
beim alten Schulmeister saßen, damals, als er noch auf die Dorfschule und nicht
auf das Internat in Edinburgh ging. Seltsam, daß ein Mann so etwas schreibt,
der in Australien zur Welt kam, als ich bereits zwanzig Jahre alt war. Doch
davon weiß Mistress Johnstone nichts.
    Den gestrigen Brief von Christine nahm ich mit zum Pfarrhaus, damit
Dr.   Jervie und ich ihn gemeinsam lesen konnten. Ich finde, der Pfarrer ist alt
geworden, dies letzte Jahr; jedenfalls zitterten ihm die Hände, als er den
Brief auf den Tisch legte – den Brief, in dem sie schrieb, daß Sybil Guthrie
ihr die Wahrheit über Neil gesagt hatte. Eine Weile saß er schweigend da,
blickte über den sommerlichen Garten hinaus auf die Felder, wo gelb und reich
die Ernte eingebracht wurde. »Die Zeit heilt alle Wunden, Ewan Bell«, sagte er.
    Ich steckte den Brief wieder ein. »Meinen Sie, sie wird eines Tages
einen anderen finden?« fragte ich.
    »Warum nicht, Ewan? Mag sein, daß sie nach Neil

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