Klagelied auf einen Dichter
Schatten tödlicher Gefahr
entronnen. Plötzlich hörten wir Christines Stimme, wie sie klar und energisch
etwas in die Nacht rief. Ich spürte, wie Jervie seinen Entschluß faßte, als der
Klang zu uns herüberkam. »Es muß noch heute nacht sein«, sagte er. »Ich gehe
und lasse sie ein.«
Von unten hörte man nun deutlich Christines Stimme. »Schreckliche
Schuhe! Neil, du mußt mich tragen.«
V.
Sie kamen den Korridor entlanggelaufen zum Schulzimmer, und
Jervie – der vermutlich vorgehabt hatte, die beiden in einem anderen Raum
beiseitezunehmen – folgte weit abgeschlagen. Ich blickte zuerst dem einen, dann
der anderen ins Gesicht. Kein Zweifel, sie waren übermütig. Sie waren
glücklich.
»Versuchen Sie ja nicht, noch über das Eis zu gehen! Der nächste,
der das versucht, bricht ein.« Christine warf ihren Hut fort und sah sich um – musterte zuerst ihr altes Zimmer, dann die Leute darin. Sie kam zu Sybil
Guthrie gelaufen. »Miss Guthrie von Erchany! Bringen Sie Frieden und Vernunft
auf diese Burg – und gute Laune und sanitäre Einrichtungen dazu.« Sie blickte
wieder in die Runde. »Ist denn Ewan Bell nicht da?«
»Haben Sie erwartet, daß er hier sein würde?« fragte Jervie sanft.
»Aber ja. Er wollte sich hier mit uns und den Anwälten treffen und
uns etwas erklären – etwas, das streng vertraulich sein sollte. Ich habe keine
Ahnung, was es –«
In ihrer Erregung hatte sie gar nicht gemerkt, was für eine Stimmung
in dem Zimmer herrschte; nun spürte sie es und verstummte schlagartig. Und
Lindsay, der in aller Ruhe an der Tür gestanden und uns betrachtet hatte,
ergriff das Wort.
»Wir haben keine Ahnung, was er vorhatte. Aber anscheinend gibt es
Dinge, die er uns erklären muß. Aber hier im Zimmer steht auf jedem Gesicht ein
Geheimnis geschrieben. Was ist geschehen?«
Ich sah, daß Dr. Jervie nicht wußte, was er tun sollte. Was er zu
sagen hatte, erforderte Ruhe und die richtige Einstimmung: und hier stand nun
der junge Lindsay und wollte die Wahrheit wissen. Ich sprang ein, um die
Situation zu retten. »Die größte Neuigkeit ist die: Ranald Guthrie lebt. Daß er
Ihnen einen Mord anhängen wollte, Mr. Lindsay, gilt nach wie vor; doch er
tötete nicht sich, sondern seinen älteren Bruder, der als Arzt in Australien
gelebt hatte und vor kurzem zurückgekehrt war.«
So sehr auf die Fakten reduziert, muß es praktisch unverständlich
gewesen sein, und ich glaube nicht, daß Christine auch nur ein Wort von dem
begriff, was ich da sagte. Doch Lindsay verstand schon, worauf es ankam. Seine
Pupillen weiteten sich. »Guthrie lebt!«
»Ein zweiter Besucher in Sicht!« rief Gylby vom Fenster, hörbar
erleichtert, daß auch nur die kleinste Ablenkung möglich war. »Er kommt auf der
gleichen Route.«
Christine wandte sich um. »Das muß Ewan Bell sein. Er darf nicht
aufs Eis gehen!« Sie lief zum Fenster.
Alle folgten ihr. Zunächst konnten wir nur eine undeutliche Gestalt
sehen, die auf der gegenüberliegenden Seite die Böschung hinunterkletterte.
»Neil«, rief Christine, »du mußt ihn warnen!« Im selben Augenblick trat die
Gestalt ins Mondlicht. Christine, die neben mir stand, schwankte. »Onkel Ranald!« Und Lindsay, wie ein Echo: »Guthrie!«
Gylby machte einen Satz zurück und löschte sämtliche Lichter im
Schulzimmer. »Er muß glauben, die Burg sei verlassen«, flüsterte Sybil Guthrie.
»Wir haben ihn; jetzt sitzt er uns in der Falle!«
Doch Lindsay holte tief Luft und brüllte: »Zurück, Mann, zurück!« Und
im selben Augenblick brach das Eis.
Einen Sekundenbruchteil standen wir alle reglos und starrten den
Zirkel aus schwarzem Wasser an, der sich immer weiter ausbreitete, mit der
Langsamkeit von Öl, hätte man denken können, mitten auf dem leise schimmernden
Eis. Ich spürte, wie ein kräftiger Arm mich beiseiteschob. Lindsays Arm. Und er
sprang von der kleinen Terrasse direkt hinunter in den Graben.
Es schienen an die fünfzehn Fuß, doch in Wirklichkeit war es wohl
weniger. Und der Aufprall wurde durch den Schnee gemildert. Gylby und ich
konnten ihm nur folgen. Als ich sprang, hörte ich Christine noch sagen: »Ich
hole ein Seil.«
Lindsay war nur Sekunden vor uns gesprungen, doch er fand eine
bessere Stelle oder hatte größere Kraft und kam lange vor uns auf der anderen
Seite des Grabens wieder hinauf. Als wir ans Seeufer kamen, war er schon
ein ganzes Stück weit draußen auf dem Eis; er kroch flach auf dem Bauch.
Ohne innezuhalten, rief er zu uns: »Es darf
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