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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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Schulzimmer – das war der Augenblick, in dem
Gylby und Hardcastle mich sahen – und ging direkt zu der kleinen Treppe. Und
ich finde, es kann ruhig gesagt werden, daß ich selbst nach dem Gewaltmarsch
von Kinkeig die Wendeltreppe schneller hinaufkam als die beiden anderen die
große Treppe. Und alles wäre anders gekommen, hätte ich unterwegs verschnauft.
    Als Junge, zu Zeiten des alten Gutsherrn, war ich oft auf der Burg
gewesen und kannte mich recht gut aus, doch an das Turmzimmer erinnerte ich
mich kaum. Ich wußte nur, daß es von der Brustwehr aus einen Zugang gab; dort
wollte ich, wenn ich durch die Falltür gekommen war, beherzt eintreten und
verkünden, daß ich als Freund Lindsays gekommen sei, um ihm und seiner Braut
Geleit für den Rückweg zu geben.
    Es stürmte heftig, und einen Moment lang stand ich oben und wußte nicht,
ob ich mich auf dem Wehrgang nach rechts oder nach links halten sollte. Ich entschied
mich für links – die falsche Richtung. So kam es, daß ich die Szene, die Miss Guthrie
von ihrer Tür aus sah, von der anderen Seite verfolgte. Nicht daß ich bemerkt hätte,
daß die junge Amerikanerin dort oben war. Und ich glaube auch nicht, daß Ranald
Guthrie es wußte: als es ihr vorkam, als habe er ihren Ruf gehört, da muß sie
sich getäuscht haben.
    Ich war ein paar Sekunden vor ihr dort; man kann meine und Miss
Guthries Bewegungen einander zuordnen, und zwar durch den Schrei, den sie hörte – den ersten, der sie von ihrer Tür fortlockte. Er kam von mir. Und dieser
Schrei, anders als der ihre, war zweifellos laut genug. Ich war auf der
Brustwehr, tastete mich vorsichtig voran, die Laterne ganz nach unten gehalten,
als etwas aus dem Dunkel gerollt kam und mich beinahe über die Zinnen
katapultiert hätte. Ich stellte meine Laterne nieder und beugte mich darüber.
Es war ein Menschenleib.
    Danach geschah alles binnen Sekunden. Ich sah, daß eine zweite
Laterne brannte, in einer Nische über einer Tür – der Tür zu der Schlafkammer.
Und im nächsten Augenblick kam Guthrie durch diese Tür. Ich richtete mich von
der zusammengekauerten Gestalt, über die ich mich gebeugt hatte – und in der
ich natürlich Neil Lindsay vermutete –, auf und trat einen Schritt zurück,
wobei meine Laterne umfiel und erlosch. Erst dadurch bemerkte Guthrie mich und
hob drohend seine Axt – das war der Augenblick, in dem Miss Guthrie uns sah,
auch wenn sie noch nicht erfaßt hatte, was vorging. Er kam auf mich zu, und
damit verschwand er aus dem Lichtkegel; minutenlang tasteten wir nun beide im
Dunkeln. Ich wußte, daß ich in Lebensgefahr schwebte – so sicher, als hätte
Guthrie mir offen den Krieg erklärt. Und von meinem Überleben hing auch das
Leben des Mannes ab, der hilflos zu meinen Füßen lag. Denn daß der Gutsherr auf
Mord aus war, daran konnte es keinen Zweifel geben.
    Irgendwo im Dunkeln lauerte er, bezog seine Stellung mit der ganzen
Schärfe seines gewaltigen Verstandes. Und plötzlich richtete er sich auf, an
der Brustwehr, nun wieder ganz im Licht. Von mir konnte er nur die Silhouette
sehen, genau wie Miss Guthrie; offenbar war er zu dem Schluß gekommen, daß das,
wenn er mich überraschen konnte, genügte. Er holte aus mit seiner Axt – zu
einem Schlag, von unten herauf geführt, der mir mitten in den Leib gehen oder
mir vom Kinn aufwärts den Kopf spalten würde. Ich mußte ihm zuvorkommen, und es
gelang mir. Und mehr ist über den Tod Ranald Guthries nicht zu berichten.

III.
    Ich kniete wieder neben der Gestalt im Schnee nieder – Miss
Guthrie war, wie wir wissen, ins Haus zurückgekehrt und sah nichts davon – und
sagte leise: »Lindsay, um Himmels willen – was hat er Ihnen getan?« Daraufhin
regte sich die Gestalt, drehte sich um, und ich blickte ihr ins Gesicht. Ich
war wie vom Donner gerührt, als ich in das Antlitz eines Guthrie sah. Mein
erster, entsetzlicher Gedanke war, daß ich den falschen Mann in die Tiefe
gestürzt hatte.
    Offenbar hatte man ihm ein Betäubungsmittel gegeben, doch er kam nun
rasch wieder zu sich. Nur noch ein paar Sekunden, dann schlug er die Augen auf,
sah mich an und fragte: »Wer sind Sie?« Und als ich ihm meinen Namen sagte,
leuchteten seine Augen, als habe er ihn erst gestern zum letzten Mal gehört.
»Ich bin Ian«, sagte er. »Ian Guthrie. Bringen Sie mich fort von hier – unbemerkt.«
    Nun hatte ich ja eigentlich für diesen Tag genug an Athletischem
geleistet – mehr hätte sogar unsere Lehrerin Miss Strachan nicht gefordert.
Aber

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