Klagelied auf einen Dichter
Senecaischen Steigerung im Schrecken – hinzu. Das beginnt
damit, daß die Nacht der Handlung ›zufällig‹ die Weihnachts-Nacht ist – zum
einen war das von Nicholas Blake zum Vergleich herangezogene Drury-Lane-Theater
im 19. Jahrhundert berühmt für seine Weihnachts-Pantomimen, zum andern hat
seit Dickens und dem mysteriösen Verschwinden seines letzten Helden Edwin Drood
zu Weihnachten kaum ein Autor des Genres auf den besonderen – und naheliegenden – Reiz verzichten wollen, das Fest der Liebe, des Friedens und der Familie zur
Feier des Hasses, des Streits und des Todes zu verfremden (s. dazu Charlotte
McLeod, »Schlaf in himmlischer Ruh« und »Kabeljau und Kaviar«). Direkt dem
Melodram entsprungen ist auch das eigentliche Burg-Personal: Nachdem auch noch
das letzte Dienstmädchen nach einem Horror-Erlebnis weggelaufen ist – natürlich
handelt es sich, wie im Buch selbst genüßlich betont wird, um die epische
Ursituation der ›Verfolgten Unschuld‹, der bekanntlich Schlimmeres als der Tod
droht –, besteht die Dienerschaft nur noch aus einem Verwalter, der alle
schurkischen Butler sämtlicher Horrorfilme beerbt zu haben scheint, seiner von
ihm tyrannisierten und etwas schwachsinnigen Frau und einem völlig
schwachsinnigen Diener, der eine anheimelnde Ähnlichkeit mit Hugos Quasimodo
hat.
»Innes erzählt die Geschichte, indem er sie nacheinander von
fünf seiner Charaktere berichten läßt … Sie werden hingerissen sein vom
Kolorit, von der Ursprünglichkeit und vom Humor dieser Erzählungen.« (Nicholas
Blake)
Gerade diese Stimmenvielfalt der Erzähler ist es, die neben dem
Schauplatz, der einsamen, eingeschneiten Burg im tiefsten Schottland, der
Handlungszeit in der Weihnachtsnacht und dem kuriosen bis schaurigen Personal,
Innes’ drittem Roman von 1938 seinen Rang unter den besten Krimis aller Zeiten
zuweist. Natürlich war es mit Wilkie Collins ein allen Genre-Fans – und damit
erst recht dem Literaturwissenschaftler Stewart/Innes – wohlbekannter
klassischer Vorläufer des heutigen Detektivromans, der dies Verfahren gleich
zweimal meisterlich angewandt hat: Dickens’ Zeitgenosse, Freund und Rivale
Wilkie Collins (1824 – 1889) erzählt in dieser multiperspektivischen Technik »Die
Frau in Weiß« (1860) und »Der Monddiamant« (1868). Bei Innes paßt es
eigentümlich zu der klassischen Archaik und der tektonischen Strenge der Fabel,
es ist, als ob einzelne Mitglieder des Chors in der griechischen Tragödie die
Handlung als – bis auf eine Ausnahme – kaum beteiligte Zuschauer erzählten.
Arrangeur dieses Verfahrens ist im Roman der Edinburgher
Rechtsanwalt Aljo Wedderburn, der selbst als Außenstehender von einem
Außenstehenden als Rechtsbeistand mit dem Fall betraut wurde. Er wiederum ist
mit einem jungen Schriftsteller aus Edinburgh bekannt – Innes/Stewart kommt aus
dieser Stadt und ist damals zweiunddreißig Jahre alt –, der seiner Meinung nach
wirklichkeitsfremde Kriminalromane schreibt. Um ihn auf den Boden der Tatsachen
zurückzuholen, soll ihm dieses ›wahre‹ Geschehen, das die Zeugen selbst
allerdings eher an einen Roman denken läßt, zur Bearbeitung und Herausgabe
unter veränderten Namen anvertraut werden – dies alles ist natürlich eine
Fortsetzung des im Genre so beliebten Spiels mit den Grenzen zwischen Fiction und Wirklichkeit , das
drei Jahre zuvor in John Dickson Carrs »Der verschlossene Raum« seinen
Höhepunkt gefunden hatte.
Erster, letzter und originellster der Erzähler ist zweifellos Ewan
Bell, und er ist auch derjenige, der am schwersten für die Mitarbeit zu
gewinnen ist. Er ist der Schuster des kleinen Dorfes, das zu Burg Erchany
gehört und das ansonsten klassisch durch den Pfarrer, die Lehrerin und die
Besitzer des Pubs vertreten wird. Bell ist Schuster in der besten Böhme- oder
Raabe-Tradition, belesen und gelehrt, aber in diesem Falle weder Atheist noch
Konventikler oder Sektierer, sondern ein Ältester der Schottischen Kirche. Als
Calvinist reinsten Wassers und striktester Observanz sind ihm alle Werke der
Phantasie – außer Hymnen zum Lobpreis Gottes oder zur Erbauung der Gläubigen – Teufelswerk, und nun soll er selbst bei der Aufzeichnung eines romanhaften
Geschehens Hand anlegen! Wedderburn packt ihn schließlich bei seiner Eitelkeit – der »Sutor«, wie die ehrwürdig lateinische Bezeichnung lautet, sei
traditionell nach Pfarrer und Kantor/Lehrer der dritte Gelehrte im Dorf. Und er
ist nun gar der Zweite nach dem
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