Klagelied auf einen Dichter
es ließ sich nicht ändern. Ich warf meine eigene Laterne über die
Brüstung, holte die brennende aus der Nische und hob mir Ian Guthrie auf die
Schultern. Auf dem Bauernhof meines Vaters habe ich oft genug Kälber getragen,
die schwerer waren als er.
Ich schleppte ihn zur Falltür, bugsierte ihn durch die Luke und
verriegelte die Tür von unten. Danach können es höchstens noch ein-zwei Minuten
gewesen sein, bis der junge Gylby auf die nun verlassene Brustwehr kam und sich
dort umsah. Mit ein wenig Hilfe stolperte Ian die lange Wendeltreppe hinunter
und dann den Korridor entlang bis zu einer Tür nicht weit vom Schulzimmer. Ich
warf einen Blick hinein; Christine war fort. Ich schob ihn hinein, und er ruhte
sich ein wenig aus, wärmte sich vor dem kleinen Feuer. Nach einer Weile fragte
er: »Und Ranald?«
»Er ist tot. Ich habe ihn über die Brüstung gestoßen.«
Sein Gesicht war bleich gewesen, doch nun war es leichenblaß. »Der
arme, irrsinnige Mann!« Er schwieg eine Weile. »Er wollte mich umbringen, Mr. Bell – nach einer kleinen Operation.« Er öffnete seine rechte Hand. »Deshalb
die Axt.«
Es sollte lange dauern, bis ich das wirklich verstand.
Der Leser wird sich an Mr. Applebys Bemerkung erinnern, daß der
kalifornische Flinders keine Charakterzüge zeigen durfte, die sich deutlich von
denen des Flinders aus Sydney unterschieden, und daß Ranald deswegen versuchen
mußte, seinen krankhaften Geiz zu überwinden. Doch es gab noch etwas anderes an
Flinders aus Sydney, wovon Appleby nichts wußte – im Gegensatz zu Ranald, dem
Ian es geschrieben hatte. In den Anfangstagen seiner radiologischen Studien
hatte Flinders zwei Finger verloren – wie es bei diesem gefährlichen Zeug
offenbar leicht geschehen kann. Nun – es war nicht allzu schwer für Ranald, mit
zwei fehlenden Fingern nach Kalifornien zu kommen: ein wenig Lektüre in
chirurgischen Büchern, einige Zeit, in der er ganz für sich allein blieb, und
Mut, der über das gewöhnliche Maß hinausging – mehr brauchte er nicht. Doch mit
dem Leichnam, den man im Burggraben finden und für Ranald Guthrie halten
sollte, war es schwieriger. Ihm durften natürlich keine Finger fehlen, die
schon vor Jahren amputiert worden waren. Andererseits hätte unter normalen
Umständen eine neue Operation, die das verbergen sollte, sofort Verdacht erregt – jeder hätte gefragt: Warum sind Guthrie die Finger
abgeschnitten worden? Doch wenn erst einmal Neil Lindsay des Mordes an
Guthrie verdächtigt wurde, war diese Frage gut genug beantwortet – dank der
alten Legende von den Lindsays und den Guthries –, und die Antwort belastete
Lindsay gar noch weiter. Die größte Schwierigkeit, die Ranald mit dem ersten
seiner beiden Feinde hatte, sollte zum wichtigsten Mittel werden, den zweiten
zu Fall zu bringen. Wie Appleby so gern sagt: Alles an Ranald Guthries
Puzzlespiel war klar und logisch und mit größter Sparsamkeit gemacht.
Doch als er sie mir zeigte, starrte ich Ian Guthries rechte Hand nur
unverständig an. Mit einiger Mühe rappelte er sich auf. »Ich höre Stimmen«,
sagte er – das müssen Gylby und die anderen gewesen sein, die vom Turm
herunterkamen –; »wir müssen fort.«
Ich blickte ihn ungläubig an. »Fort!«
»Niemand weiß, daß ich hier bin – niemand außer dem Schurken
Hardcastle, und der wird nichts sagen. Und Ranalds Tod wird vielleicht als
Unfall oder Selbstmord durchgehen.«
»Mr. Ian, Sie sollen nicht glauben, daß ich nicht dazu stehen will,
daß ich Ihren irrsinnigen Bruder getötet habe. Entweder er oder Sie und ich.«
»Ganz richtig, Ewan Bell. Aber glauben Sie, ich will einen
gräßlichen Skandal, nur weil Ranald den Verstand verloren hatte? Wir gehen
zurück nach Kinkeig, solange noch Zeit dazu ist.«
Ich fand, daß er nun seinerseits den Verstand verloren hatte, wenn
er glaubte, er könne in einer solchen Nacht und bei seiner Verfassung bis nach
Kinkeig kommen. Heute weiß ich natürlich, was ihn trieb: er wollte um jeden
Preis – mit der schwarzen Leidenschaft der Guthries – seine Tage als Richard
Flinders beschließen. Nur zu verständlich, wenn man sich das einmal überlegt,
denn schließlich hatte er in beinahe fünfzig Jahren Richard Flinders aus sich
gemacht. Im Augenblick konnte ich ihm nur nachgeben, obwohl ich es nicht
verstand, und folgte ihm auf seinem Weg aus der Burg. Man darf nicht vergessen,
daß er nichts von Lindsay und von der Gefahr wußte, in die der Junge kommen
würde. Und ich selbst
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