Klagelied auf einen Dichter
Schildchen anhängt, um
herauszufinden, wie lange sie brauchen, bis sie einmal um die Welt geschwommen
sind. Und die Sache interessierte mich so sehr, daß ich mich auf die Jagd nach
gelehrten Ratten machte, ja, ich steigerte mich so hinein, daß ich fast eine
ganze Stunde damit zubrachte. Für jeden, der mich gesehen hätte, hätte ich
einen Verrückten in bester Erchany-Tradition abgegeben, wie ich den Biestern
mit dem Schüreisen aus meinem Zimmer auflauerte. Die gelehrten Gesellen waren
träger und, glaube ich, auch dreister als die anderen, und wahrscheinlich war
das Schüreisen nicht das richtige Mittel; mit zwei geschickten Händen hätte man
leicht ein Exemplar fangen können. Das Eisen, wenn schon keine gute Angriffs-,
mochte jedoch als Verteidigungswaffe noch gute Dienste tun; als ich die Jagd
aufgab und mich für die Nacht rüstete, behielt ich es zur Hand.
Ich weiß nicht wie, aber ich schlief tatsächlich ein. Zweimal weckte
mich das Scharren der Ratten, zweimal schlug ich im Dunkeln zu – und das zweite
Mal folgte ein Schrei, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Die arme
Mrs. Hardcastle: jetzt weiß ich, was sie nachts in ihrem Kopf zu hören bekommt.
Ich zündete eine Kerze an. Und so unglaublich das war, hatte ich tatsächlich
eine gelehrte Ratte erschlagen.
Es war kein schöner Anblick, und es dauerte eine Weile, bis ich den Mut
gefaßt hatte, die Leiche zu untersuchen. Die Schriftrolle erwies sich als
ein Stück feinen Papiers – vielleicht eine Seite, die aus einem Notizbuch mit
Dünndruckpapier gerissen war – und war der Ratte recht geschickt mit einem
Streifen Baumwollstoff ans Bein gebunden. Ich schnitt es ab und rollte es mit
spitzen Fingern auf, denn das Blut des Tieres war darübergelaufen. Auf dem
Blatt standen neun Worte, in ordentlicher Handschrift mit Tinte geschrieben: Bringen Sie unbemerkt Hilfe zum Turm oberster Stock. Dringend.
Ich kleidete mich an. Daß die ganze Sache melodramatisch oder absurd
oder daß sie ein Witz oder eine Laune Guthries sein konnte, dieser Gedanke
stellte sich gar nicht erst ein. Wenn man eine Weile in großer Höhe gelebt hat,
dann kann man ohne weiteres auch zu noch höheren Gipfeln aufsteigen, und die nun
schon gut vierundzwanzig Stunden, die ich auf Erchany war, hatten mich gut
genug konditioniert, daß ich keine Sekunde lang auf die Idee kam, der Hilferuf
der gelehrten Ratte könne ein Scherz sein. Das einzige, was ich überlegte, war,
wie ich am besten ins oberste Stockwerk des Turmes kam.
Auf dem Gang vor meiner Zimmertür war es stockdunkel, und ich war
noch kaum ein paar Schritte gegangen, bis der Wind, der nun wieder durch alle
Ritzen fegte, meine Kerze ausblies. Da fiel mir Sybil Guthries elektrische Taschenlampe
ein; und es war zwar nicht gerade freundlich, sie zu wecken und zu beunruhigen – nicht daß sie eine ängstliche Natur wäre –, doch andererseits hatte ich auch
das Gefühl, daß die Umstände jede Unterstützung forderten, die zu erhalten war.
Also machte ich wieder kehrt und klopfte an ihre Tür. Es war keine Antwort zu
hören, doch das war nicht verwunderlich, denn der Wind ließ es an hundert Ecken
ringsum rasseln und klappern. Ich klopfte noch einmal, dann öffnete ich die Tür
und ging hinein. Ich rief nach ihr, zündete ein Streichholz an, dann nahm ich
allen Mut zusammen und befühlte das gewaltige Bett. Der Verdacht erhärtete sich
zur Gewißheit: es war niemand im Zimmer.
Hätte ich die Muße dazu gehabt, so wäre dies wohl der Augenblick
gewesen, in dem mir ein wenig furchtsam zumute gewesen wäre. Doch im gleichen
Augenblick erspähte ich einen Lichtschein auf dem Korridor; ich ging hinaus in
der Erwartung, Sybil zu finden, doch statt dessen stand der abscheuliche
Hardcastle vor mir, hielt eine Laterne in der einen Hand und donnerte mit der
anderen an meine Zimmertür. Er sah mich düster an – zweifellos deutete er die
Tatsache, daß ich aus Sybils Zimmer kam, in einem Sinne, der zu seinem ganzen
Wesen paßte – und erklärte dann, der Herr schicke ihn; er fühle sich besser und
ließe fragen, ob ich zu einem Schlummertrunk zu ihm hinauf in den Turm kommen
wolle.
Ich warf einen Blick auf meine Uhr – alle Feinheiten der Höflichkeit
wären bei Hardcastle verschwendet – und sah, daß nur noch fünf Minuten zur
Mitternacht fehlten. Nur noch ein paar Minuten, und die Weihnacht begann.
»Gern«, entgegnete ich. »Ich war eben auf dem Weg zu ihm. Führen Sie
mich.«
Die Laterne zuckte in der Hand
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