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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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das uns als Haus eines chronischen
Geizhalses erschien – servierte uns dann aber ein seltsam verschwenderisches
Abendessen. Die Mitglieder des Haushaltes sind allesamt bemerkenswert: das
kuriose Faktotum Hardcastle mit allen Anzeichen eines Schurken, seine Frau halb
senil, der Stallbursche schwachsinnig, der Hausherr dafür umso scharfsinniger,
vielleicht aber auch irrsinnig – womit ich aber schon wieder von den Fakten
abkomme; ich würde einen jämmerlichen Zeugen abgeben, wenn ich etwas über
Guthries Geisteszustand zu Protokoll geben sollte. Tatsache, wenn auch bisher
unerklärt, ist hingegen, daß im ganzen Haushalt eine Anspannung herrschte und
alle auf etwas zu warten schienen – eine Art elektrisches Feld, das zwischen
Guthrie, seiner Nichte Christine Mathers und gewissen unbekannten Personen oder
Ereignissen draußen bestand. Tatsache ist auch, daß Hardcastle vor der Gefahr
warnte, die von einem gewissen Neil Lindsay ausgehe. Was ich sonst noch
anführen kann, sind rein gefühlsmäßige Dinge. Zunächst einmal etwas an Sybil
Guthries Verhalten gegenüber dem Haushalt ihres Verwandten sowie die Art, in
der Guthrie davon sprach, seine amerikanischen Vettern hätten »Freunde
geschickt«. Dazu halte ich, wie Du gleich hören wirst, einen Schlüssel. Zum
zweiten die Art, wie Christine zu ihrem Onkel sagte, er »müsse sich
entscheiden«. Und zum dritten die Art, wie Guthrie zu mir sagte: »Ich bin froh,
daß Sie gekommen sind.« All diese Dinge bedeuten etwas ;
sie sind wichtige Aspekte des Bildes, auch wenn wir nicht wissen, wohin sie
gehören; ich will sie die rätselhaften Fakten nennen. Außerdem ist natürlich
gut möglich, daß noch andere, nicht minder bedeutende Indizien in meinem
bisherigen Bericht verborgen liegen, doch wenn, dann sind sie mir nicht bewußt.
    Und nun zu den Ereignissen, die zu Guthries Tode führten. Du wirst
wohl kaum überrascht sein, wenn Du hörst, daß das erste, was es dazu
festzuhalten gilt, eine Ratte betrifft.
    Auch zum gestrigen Abendessen erschien Christine allein.
Anschließend saßen wir wieder im Schulzimmer beisammen, und ich hatte den
Eindruck, sie wußte nicht mehr, womit sie uns noch unterhalten sollte, und am
Ende griff sie zu einer Mappe mit ihren Zeichnungen, die auf dem Tisch lag, als
warte sie darauf, verpackt zu werden – rasch hingeworfene, sparsame Skizzen,
größtenteils Impressionen von Wildgänsen über Loch Cailie. Doch sie war
verlegener und mehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt denn je und verabschiedete
sich bald. Kurz darauf verkündete Sybil, daß es ihr zu kalt sei – und kalt war
es! –; sie werde lieber im Bett lesen. Ein paar weitere Minuten, und ich begab
mich ebenfalls nach oben; ich hatte mir in den Kopf gesetzt, ein rattensicheres
Zelt zu bauen, in dem ich die Nacht verbringen konnte. Und um dies ehrgeizige
Projekt wissenschaftlich zu untermauern, begann ich, mir diese Mitbewohner ein
wenig näher anszusehen.
    Am einfachsten klassifizieren ließen sie sich nach Farbe und Größe.
Es gab große Ratten und kleine Ratten, braune Ratten, graue Ratten und – was
mir, ich weiß nicht warum, besonders nobel vorkam – schwarze Ratten; und es gab
Ratten unbestimmbarer Farbe, die man am ehesten als scheckig oder gefleckt
bezeichnen könnte. Man sah ein paar fette Ratten, doch weitaus mehr magere
Ratten, ein paar träge Ratten, doch hauptsächlich geschäftige Ratten – wobei
natürlich all diese Eigenschaften in den verschiedensten Kombinationen
auftraten –, und zuletzt hätte man sie auch noch in dreiste und noch dreistere
unterscheiden können. Soweit ich sehen konnte, gab es keine wirklich
furchtsamen Ratten, obwohl ihnen doch das kleine Federmesser des Hausherrn oft
genug einen Schrecken einjagen mußte. All das war nur das, was in einem alten
Gemäuer zu erwarten war, wo die Nager fast ganz die Oberhand hatten. Was mich
jedoch wirklich verblüffte, waren die gelehrten Ratten, die man von Zeit zu Zeit sah. Ich könnte mir vorstellen, daß solche
Ratten noch rarer sind als ihre rosa oder blauen Brüder.
    Gelehrte Ratten. Genauer gesagt Ratten, die, nicht ohne eine gewisse
Mühe, kleine Papierrollen mit sich umherschleppten – ganz in der Art von
Studenten, die gerade ihre kunstvoll kalligraphierten Diplome erhalten haben.
Alles in allem hatte ich zwei, vielleicht auch drei von diesen gelehrten Ratten
gesehen.
    Ich vermutete, daß Guthrie sich seine einsamen Tage mit
naturkundlichen Experimenten vertrieb – so wie man Walen

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