Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
Vom Netzwerk:
Sie gingen zur Tür –«
    »Und während all der Zeit waren sie immer zu sehen, Sybil? Sie sind
nicht zum Beispiel einmal zum anderen Ende des Raumes gegangen?«
    »Ich hatte sie die ganze Zeit vor Augen. Sie gingen zur Tür und
gaben sich die Hand – förmlich, würde ich sagen, nicht herzlich. Lindsay ging
hinaus, und Guthrie kehrte zurück. Es war ein Schock, als ich sein Gesicht sah.
Es hatte – ich weiß nicht, wie ich das sagen soll – etwas Tragisches. Er war
ein gebrochener Mann. Nur eine Sekunde lang konnte ich das Gesicht sehen. Er
zog einen Schlüssel aus der Tasche, schloß die Schlafzimmertür auf, ging hinein
und zog die Tür hinter sich zu. Es verging eine Minute oder eine halbe Minute,
dann hörte ich leise einen Schrei. Ich wartete noch einmal eine Minute, dann
beschloß ich, die Flucht über die Treppe zu wagen. Ich war gerade in der Mitte
des Zimmers, als Sie und Hardcastle hereinkamen.«
    »Und als ich Sie nach Guthrie fragte, antworteten Sie: ›Er ist vom Turm
gestürzt.‹ Verzeihen Sie, Sybil, aber das werden die anderen auch fragen: Woher
um alles in der Welt wußten Sie das?«
    Sybil Guthrie sah mich einen Moment lang schweigend an. Dann sagte
sie: »Verstehe.« Ein weiteres Schweigen. »Noel, ich wußte es einfach intuitiv.«
    »Haben Sie mir nicht einmal gesagt, Sie glaubten nicht an das
Übersinnliche?«
    Das war ein wenig ungehörig von mir; ich war schließlich kein
Staatsanwalt. Aber es schien mir wichtig, daß Sybil die Gefahren der Lage, in
der sie sich befand, auch erkannte. »Ich habe es gewußt, Noel Gylby!« rief sie
trotzig. »Nach dieser Unterredung war er ein gebrochener Mann. Der Tod stand
ihm im Gesicht geschrieben. Und die Art, wie Sie gleich nach dem Schrei
hereinstürzten, war für mich der Beweis. Guthrie war ohnehin so gut wie
wahnsinnig, und als seine Pläne fehlschlugen, machte er seinem Leben ein Ende.«
    »Sie meinen, es war ihm nicht gelungen, Neil Lindsay abzufinden, und
er konnte den Gedanken nicht ertragen, daß er seine Nichte verlieren würde?«
    »Etwas in dieser Art. Das wäre doch spektakulär genug für Sie,
oder?«
    Wir hatten uns nebeneinander auf Guthries Schreibtischkante gesetzt.
Nach einer Weile sagte ich: »Tja, für den ersten Probelauf war das gar nicht
schlecht, Sybil.«
    Sie wandte den Kopf und sah mich mißtrauisch an: »Was soll das denn
nun wieder heißen?«
    »Das soll heißen«, sagte ich behutsam, »daß wir an dieser Geschichte
noch etwas feilen müssen.«
    »Mit anderen Worten, Sie glauben, ich lüge?«
    »Ganz und gar nicht. Was Sie mir erzählt haben, kann gut die
Wahrheit und nichts als die Wahrheit sein. Aber es ist alles viel zu abstrus;
damit werden Sie niemanden überzeugen. Ich kann mir gut vorstellen, daß Sie
gespürt haben, wie er sprang. Aber genau diese Dinge sind es, mit denen man vor
Gericht immer einen denkbar schlechten Eindruck macht.«
    Wiederum sagte Sybil: »Verstehe.«
    »Sie verstecken sich hier, Guthrie geht in die Schlafkammer, man
hört einen Schrei, wir kommen hereingestürmt, und Ihre Phantasie macht im
Dunkeln einen großen Sprung – es mag ein Sprung zur Wahrheit sein. Aber sehen
Sie nicht, wie das auf andere wirken könnte? Nur daß Sie und Guthrie im Grunde
nichts miteinander zu tun hatten, verhindert, daß Sie regelrecht als
Tatverdächtige dastehen.«
    Sybil stand auf und stellte sich vor mich hin. »Noel, soll ich Ihnen
die Wahrheit verraten?«
    »Um Himmels willen, ja.«
    »Vor Ihnen steht die Herrin von Erchany!«
    Ich sprang auf. »Was soll das heißen?«
    »Das soll heißen, daß ich Ranald Guthries Erbin bin.«
    *   *   *
    Die Reihe von Sternchen, liebste Diana, setze ich her, damit Du eine
kleine Pause hast, in der Du gebührend verblüfft sein kannst. Aber vielleicht
bist Du das auch gar nicht – weil ich es ja ebenfalls nicht war. Irgendwie
hatte ich schon seit einer ganzen Weile gespürt, daß es da doch, um wieviele
Ecken auch immer, eine Beziehung zwischen Sybil Guthrie und den Bewohnern von
Erchany gab, und davon schimmert wahrscheinlich schon weiter vorn in meinem
Bericht etwas durch. Wenn mich etwas wirklich beschäftigte, dann das Bild, das
nun wieder lebhaft vor meinem inneren Auge erschien: das Bild von Sybil und mir
im Schnee, jeder auf einem Kotflügel meines Wagens, und ich sehe das Licht von
Erchany und erkläre mit wichtiger Miene, daß wir dorthin gehen sollten. Denn in Wirklichkeit hatte sie ja von Anfang an nichts anderes
vorgehabt, als im wahrsten Sinne des Wortes auf

Weitere Kostenlose Bücher