Klagelied auf einen Dichter
des vorletzten Abends und Sybils
Aussage nicht zusammenpaßten. Ein Kurzschluß des Gehirns, nichts weiter; es war
durch nichts zu rechtfertigen, daß ich eine vollkommen unlogische Folge von Ereignissen
in ein einfaches, melodramatisches Muster zwängen wollte, und Sybil brachte mich
mit der hübschen Frage zur Besinnung: »Bestehen Sie denn darauf, daß es etwas
Spektakuläreres gewesen sein muß?«
Ausweichend antwortete ich: »Die Leute werden eine Menge Fragen
stellen.«
»Wahrscheinlich.«
»Die Polizei wird alles genau wissen wollen – wo jeder von uns war
und warum er dort war und so weiter.«
»Und ich sollte bei Ihnen schon einmal meine Antworten üben?«
Ich antwortete nur: »Das fände ich schön.«
Sie ging zum anderen Ende des Raums und wandte sich um. »Noel, Sie
sind ein netter junger Mann, auch wenn Sie immer so albern tun. Aber ich
wünschte, ich wüßte etwas über Ihre Prinzipien.«
»Verlassen Sie sich darauf, sie sind orthodox und streng.«
»Ein Jammer.« Sybil blickte mich dabei mit ernster Miene an, und ich
wußte, daß sie tatsächlich meinte, was sie sagte. Sie hielt inne, legte die
Stirn in Falten, holte von irgendwo Zigaretten hervor. Ich gab ihr Feuer, sie
nahm zwei Züge, dann fuhr sie bedachtsam fort. »Mr. Gylby – Noel –, Sie haben
ein Recht, die ganze Geschichte zu hören, so gut ich sie erzählen kann. Hören
Sie zu.« Wieder ging sie zum anderen Ende des Zimmers, und diesmal sprach sie
mit dem Rücken zu mir. »Ich habe hier oben herumgeschnüffelt.«
»Na, das ist ja allerhand.«
Die nonchalante Bewunderung, die ich in diesen Satz legen wollte,
kam leider nicht gut an. Als Sybil sich wieder umdrehte, hatte sie ein
spöttisches Lächeln aufgesetzt, ganz die lässige Amerikanerin, die sich dem
steifen Engländer überlegen fühlt. »Wie gesagt, ich habe herumgeschnüffelt. Das
ganze Leben hier hat mich einfach irgendwie neugierig gemacht, und ich hatte
Lust, mal an ein paar Türen zu lauschen. Deshalb habe ich mir ja vorhin im
Schulzimmer auch gleich gedacht, daß Freund Hardcastle davorstehen wird. Diese
Art, mich umzusehen, das liegt mir einfach im Blut.«
»Nun gut, Sybil. Sie wollten also das Haus auskundschaften. Erzählen
Sie weiter.«
Sybil warf mir einen mißtrauischen Blick zu, und anscheinend kostete
es sie einige Überwindung, weiterzumachen. »Was mich am meisten reizte, war
dieser Turm hier. Er ist so romantisch –«
»Spielen Sie nicht die unschuldige Touristin, Sybil. Oder sparen Sie
sich das für die Herren im Trenchcoat auf.«
»Ich dachte, ich sollte bei Ihnen üben! Also, es war folgendermaßen.
Ich ging auf mein Zimmer, legte mich aufs Bett und las – und je länger ich da
lag, desto weniger Lust hatte ich, mich auszuziehen und unter die Decke zu
kriechen. Ein- oder zweimal stand ich auf und blickte zum Fenster hinaus. Die
reine Unruhe, denn außer Finsternis war nichts zu sehen. Jedenfalls bis
ungefähr halb zwölf nicht; da fiel mir nämlich ein Licht auf, das sich hoch
oben auf der anderen Seite des Hofes hin- und herbewegte – mein Fenster liegt
ja zum Hof. Ich vermutete, daß es Guthrie oben in der Galerie war, und ich
begriff, daß niemand im Turm sein würde, solange er dort oben war. Ich fand,
daß es doch keine große Sünde war, wenn ich mir die – anderen Räumlichkeiten
der Burg einmal ansah.«
»Da haben Sie ganz recht. Um ehrlich zu sein: kurz nach Ihnen habe
ich mich ebenfalls in Richtung Turm auf den Weg gemacht.«
»Als Hardcastle Sie rief, meinen Sie?«
»Nein. Ich war schon von mir aus losgegangen, als Hardcastle kam.«
Einen Augenblick lang schien Sybil ganz darauf konzentriert, einen
verborgenen Sinn in diesem Satz zu suchen. Dann berichtete sie weiter. »Ich
nahm eine Kerze und Streichhölzer und ging nach unten. Ich hatte mir meine
Gedanken gemacht, wie die Burg wohl aufgebaut ist, und vertraute darauf, daß
ich mich schon zurechtfinden würde. Allzu große Hoffnungen, daß ich auf meinem
Ausflug etwas entdecken würde, machte ich mir nicht; wahrscheinlicher war ja,
daß Guthrie die Tür zu seinem Turm verschlossen hielt. Mein Herz schlug
schneller, als ich sah, daß sie offen war und ich ins Treppenhaus konnte;
allerdings pochte es auch ein bißchen vor Angst.«
»Begegnet sind Sie niemandem? Oder haben Sie etwas gehört? Das ist
die Art von Fragen, die bestimmt gestellt werden.«
»Niemanden gesehen, nichts gehört. Auf dem Weg nach oben habe ich
ein paar Türen probiert. Alle waren verschlossen. Also bin
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