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Klagelied auf einen Dichter

Klagelied auf einen Dichter

Titel: Klagelied auf einen Dichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Innes
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Erchany hereinzuschneien – und
ohne mit der Wimper zu zucken, spannte sie mich für ihre Pläne ein. An manche
Details – die unschuldige Art, wie sie sich nach dem Weg in Richtung Süden
erkundigte, die Entschlossenheit, mit der sie ihren Wagen über die Schneewehe
fuhr – denke ich geradezu mit Ehrfurcht zurück. Und hatte sie nicht im
kritischsten Augenblick ihres Plans lässig dagestanden und ihre Witze mit
Coleridges Christabel gemacht? Wie ich, glaube ich,
schon weiter oben schrieb – ein patentes Mädchen.
    Bisher habe ich nur ein paar Andeutungen darüber, worum sich alles
dreht. Die amerikanischen Guthries – Sybil und ihre verwitwete Mutter – haben
durch irgendwelche finsteren finanziellen Machenschaften von Ranald Guthrie
Schaden genommen; ihnen kamen Gerüchte zu Ohren, daß er verrückt und
unzurechnungsfähig sei; und da sie Ansprüche auf seinen Besitz erheben, haben
sie schon eine Reihe von Anläufen unternommen, herauszufinden, wie die Dinge
tatsächlich stehen. Als Sybil nach England kam, beschloß sie, sich mit eigenen
Augen einen Eindruck zu machen. Sie war vor ein paar Wochen schon einmal hier
und sah sich um, und als nun der große Schnee kam, da witterte sie ihre Chance.
Was sie allerdings nicht voraussehen konnte, das arme Kind, das war die
gewaltige Klemme, in die sie durch diese leichtsinnige Unternehmung geraten
sollte. Jetzt hat sie es doch ein wenig mit der Angst zu tun bekommen – was nur
zeigt, wie vernünftig sie ist. Ihre Lage ist ja tatsächlich nicht
beneidenswert.
    Doch so erschrocken sie sein mag, ist sie doch voller Kampfgeist.
Als ich vor dem erkalteten Kamin in Guthries Studierstube stand und sie
betrachtete, wie sie jetzt wieder auf der Kante des Schreibtischs hockte, mußte
ich an den Wahlspruch denken, der allem Anschein nach von nun an der ihre sein
wird, Tast nicht den Tiger an . Das war angemessen
genug: ich konnte die Raubkatze sehen, wie sie da vor mir saß, und ich hatte
mich gehütet, ihr zu nahe zu kommen, ja ich hatte sie nicht einmal leise
berührt – oder, um es anders zu sagen, ich wußte im Grunde kaum etwas über
Sybil. Aber ich war mir sicher, daß sie angreifen würde, wenn sie in Bedrängnis
kam; und gewiß konnte sie in manchen Dingen sehr, sehr unerbittlich sein. Du
siehst also, Diana, die Anziehungskraft von Miss Sybil Guthrie ist nur ein
schwacher Abglanz der Anziehungskraft von Miss Diana Sandys; kein Grund zur
Besorgnis also.
    Sie hockte da auf der Kante, zum Angriff gespannt, und brauchte
eigentlich meine dezenten Hinweise auf ihre prekäre Lage nicht. Ich wurde sogar
das unbestimmte Gefühl nicht los, daß sie schon weiter in die Zukunft plante,
als ich im Augenblick überhaupt sehen konnte – ein Gefühl, das seine Ursache in
etwas haben mußte, was mir in jüngster Zeit begegnet war. Schon im nächsten
Moment kam ich darauf: es waren Sybils Augen. Sie betrachtete mich und das
Zimmer mit genau jenem Blick, mit dem Ranald Guthrie seine unerwarteten Gäste
studiert hatte. Dramatischer hätte sie mir nicht zu Bewußtsein bringen können,
daß es nach wie vor einen Guthrie auf Erchany gab.
    »Was ist von Ihren früheren Erkundungen hier bekannt geworden?«
fragte ich.
    »Keine Ahnung. Nicht viel. Einmal habe ich von dem Gasthaus in
Kinkeig ein Telegramm abgeschickt, in dem stand, daß ich damit rechnete, bald
fündig zu werden.«
    »An wen?«
    »Unseren Anwalt. Er war damals in London, aber inzwischen ist er
wieder zu Hause. Noel, wahrscheinlich sollte ich mir besser einen Rechtsanwalt
oder so etwas suchen.«
    »Den sollten Sie wohl haben. Genauer gesagt haben Sie ihn sogar
schon. Ich habe ihn telegrafisch angefordert.«
    »Noel Gylby! Erzählen Sie.«
    »Mir gefiel die Situation ganz und gar nicht: Guthrie tot, Hardcastle
schreit Mordio, und Sie stehen da oben im Zimmer. Man muß doch Vorsorge
treffen, nicht wahr? Und ein Onkel von mir ist gerade in Edinburgh; er ist
Militär und Kommandeur der schottischen Truppen. Er wird dafür sorgen, daß der
richtige Mann hier eintrifft.«
    »Na, das nenne ich Kopf bewahren.«
    »Gerade darum geht es ja, Sybil.«
    »Verstehe.«
    Das war also geregelt – auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte,
daß tatsächlich jemand versuchen würde, Sybil dafür an den Galgen zu bringen;
ich persönlich hätte ja lieber Hardcastle baumeln sehen, auch wenn ich nicht
recht wußte weswegen. Doch dieser Gedanke brachte mich auf eine Frage. »Sybil,
Sie sagen, Sie haben Guthrie und Lindsay die ganze Zeit über sehen

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