Klagelied auf einen Dichter
Guthrie es gar nicht zugelassen
habe, daß Tee gekauft wurde – offenbar ein besonders rühmenswerter Charakterzug
ihres guten Herrn, aus dessen frommer Betrachtung sie nun großen Trost schöpft.
Als wir sie hinauskomplimentiert hatten, herrschte zunächst
Schweigen. Sybils Angelegenheiten gingen mich ja im Grunde nichts an, zufällige
Reisebekanntschaft, die ich war, und das blieb für meine Begriffe auch jetzt
noch so, so geheimnisvoll die Dinge auch sein mochten. So fand ich es
angemessen, daß ich vorerst nichts sagte, gestattete mir aber, sie
erwartungsvoll anzublicken. Und es dauerte nicht lange, bis Sybil sagte: »Ich
glaube, ich sollte mit Ihnen sprechen, Mr. Gylby.« Dabei wies sie mit einer
vielsagenden Geste in Richtung Tür.
Ich verstand sogleich, ging hinüber und öffnete sie. Und da stand
Hardcastle in seiner üblichen Haltung, lauernd, ein zu fetter Fuchs vor der Tür
zum Hühnerstall. »Mr. Gylby, Sir«, sagte er, und sein Bemühen, harmlos
dreinzublicken, war geradezu grotesk, »ich dachte, Sie wünschen vielleicht ein
wenig mehr Feuer im Kamin?«
Ich begriff, daß es im Augenblick nur ein einziges gab, was das
Verhältnis zwischen mir und Hardcastle wirklich zufriedenstellend regelte, und
das waren ein paar kräftige, verschlossene Türen. Ich erklärte ihm, daß er
vorerst das Feuer nicht zu schüren brauche; wir seien ohnehin gerade auf dem
Weg zum Turm. Und nach oben gingen wir, auch wenn Hardcastle uns nachsah wie
zwei Turteltauben, die ihm gerade ins Gebüsch entwischen. Offensichtlich gab es
noch immer etwas, hinter das er unbedingt kommen wollte – Gott weiß, was es
sein mochte –, und so kam es, daß man seine ja nun nicht gerade zierende
Gestalt ständig irgendwo umherstehen fand. Ich wandte mich um und rief ihm,
vielleicht mit einer winzigen Spur Bosheit, noch zu, daß wir zum Frühstück
wieder unten seien und ob Mrs. Hardcastle uns wohl ein paar Eier kochen könne?
Dann machten wir uns schweigend, noch immer im Licht der Laterne, auf den
mühsamen Weg nach oben.
Seit dem Augenblick, in dem ich so säuberlich ihr Automobil
demoliert hatte, waren Sybil und ich die besten Kumpel gewesen. Welten prallten
aufeinander – im wahrsten Sinne des Wortes, muß ich es noch einmal sagen? –,
die Tausende von Meilen auseinanderlagen, und der Aufprall schleuderte uns an
einen Ort, der uns beiden fast gleichermaßen fremd war: was wäre besser
geschaffen, ein enges Band zwischen uns zu knüpfen? Nur während der letzten
Stunden – seit Sybil so unerklärlich im Turmzimmer gestanden hatte – hatten wir
uns sehr entfremdet. Als wir jedoch nun in der düsteren Einsamkeit des
Turms die endlosen Stufen emporklommen, stellte sich – ganz unabhängig von
Sybils unterschwelligem Versprechen, mir alles zu erklären – die alte
Kameradschaft wieder ein. Ich glaube nicht, daß ich romantische Gefühle für
diese ganz und gar unromantische junge Dame hege, aber als wir an der
verschlossenen Tür anlangten, hatte ich doch sehr den Eindruck, daß sie sich in
eine ziemliche Klemme gebracht hatte und daß ich ihr ritterlich zur Seite
stehen mußte. »Halten Sie die Laterne, Sybil«, sagte ich, »bis ich den
Schlüssel gefunden habe.« Sie legte mir die Hand auf den Arm, und dann nahm sie
die Laterne; ein paar Augenblicke, dann traten wir von neuem in Ranald Guthries
Studierstube ein.
»Da wären wir also«, sagte ich, ohne mir etwas dabei zu denken. »Der
Ort des Verbrechens.«
»Aber Noel, es hat kein Verbrechen gegeben. Das habe ich Ihnen doch
schon gesagt – er ist einfach hinuntergestürzt.«
»Und wie hat er das angestellt?«
Es muß wohl ungläubig oder spöttisch geklungen haben. Jedenfalls
errötete Sybil und sagte noch einmal: »Er ist einfach hinuntergestürzt.«
Eine kleine Pause trat ein. Vielleicht fuhr ich mir perplex durchs Haar;
jedenfalls weiß ich noch, wie mir plötzlich auffiel, daß ich das Ticken meiner Armbanduhr
hörte. Und lebhaft kam die Erinnerung an den vorletzten Abend zurück, als wir beim
Abendessen zusammengesessen hatten, an das langsame Ticken der Standuhr, auf das
ich jenes unerträgliche Gefühl des Wartens projiziert hatte, das Gefühl des Wartens,
das alles andere zu durchdringen schien. Hatten wir denn nur darauf gewartet, daß
Ranald Guthrie durch einen dummen Zufall von seinem Turm purzelte? Um zwei Uhr morgens
sind die logischen Fähigkeiten des Verstandes nicht ganz auf ihrer Höhe: ich war
in jenem Augenblick überzeugt, daß die Atmosphäre
Weitere Kostenlose Bücher