Klammroth: Roman (German Edition)
Blick nicht vom Display. »Kannst du mal den Regen abstellen?«
»Stumm«, sagte Anais. »Bitte.«
Lily schob mit schwarz lackiertem Fingernagel den Schalter auf Lautlos. Einer der Töne wurde abgeschnitten.
»Danke.«
»Dad fragt, wann wir da sind.«
»Die Frage wird nicht origineller, nur weil du behauptest, dass er sie stellt.« Lilys Lächeln war verräterisch gewesen. Nie und nimmer lächelte sie so, wenn ihr Vater simste. Oderdoch? Anais spürte einen Stich von Eifersucht. Sie schämte sich dafür, aber nicht sehr.
Lily steckte das Smartphone in ihre Tasche. »Können die bei so einem Regen überhaupt das Haus abreißen?«
»Keine Ahnung.« Damit würde sie sich beschäftigen müssen, wenn es soweit war. Sie stand zum ersten Mal vor dem Problem, eine ausgebrannte Hausruine entsorgen zu müssen, und sie verdrängte jeden Gedanken daran, solange es nur ging.
»Kann ich andere Musik haben?«
»Klar.« Anais nahm den iPod aus der Ablage. Er hing mit einem weißen Kabel am Armaturenbrett. »Wie wär’s mit –«
»Ich mach das schon.« Das Mädchen nahm ihr das Gerät mit sanftem Nachdruck aus der Hand.
Anais nickte. »Okay.« Sie musste sich daran gewöhnen, dass sie nicht jede Entscheidung allein treffen konnte. Nicht solange Lily bei ihr war. Jetzt schon die zweite Woche, und alles in allem schlugen sie sich besser als befürchtet. Vielleicht tat es ihnen ganz gut, dass sie von Amsterdam aus nicht gleich zurück nach Hamburg geflogen waren. Phil hatte sie am Telefon gefragt, ob es eine gute Idee sei, Lily mit nach Klammroth zu nehmen. Sie war sich da selbst nicht sicher, aber Phil war auf Tournee, und sie wussten beide, dass eine Vierzehnjährige überall besser aufgehoben war als backstage zwischen Musikern und Roadies. Dabei ging es nicht um das Klischee der Exzesse – die lagen längst hinter Phil, er fühlte sich zu alt dafür und war heilfroh, wenn man ihn und seinen kaputten Rücken nach dem Auftritt in Frieden ließ –, sondern um die wenige Zeit, die er dabei für seine Tochter haben würde. Und Anais sah Lily ohnehin viel zu selten.
Es hatte wehgetan, als Lily sich nach der Trennung fürPhil entschieden hatte. Sie hatte die Wahl gehabt, bei Anais in Hamburg zu bleiben oder mit ihrem Vater nach London zu ziehen. Damals war sie elf gewesen, eigentlich zu jung, um den Lockungen einer Stadt wie London zu erliegen; aber dort war alles neu und spannend gewesen, während sie in Hamburg aufgewachsen war. Um mit Phil nach England zu gehen, hatte sie sogar ihr Pferd aufgegeben – das Viertel, das ihr gehört hatte. Welche Chance hätte da ihre Mutter gehabt?
Einmal im Monat kam Lily zu Besuch, selten länger als zwei Tage. Dazu kamen die Wochen, in denen Phil mit seiner Band tourte. Dann musste Anais alles stehen und liegen lassen, ihre Termine absagen, ihrem Leben für eine Weile den Anschein von Stabilität und Ordnung geben und zurück in ihre Mutterrolle schlüpfen. Sie tat es gern, auch wenn sie sich manchmal die süße Achtjährige zurückwünschte statt eines pubertierenden Hormonmonsters.
Trotzdem, insgesamt lief es nicht schlecht. Solange keine von ihnen kochte.
»Hast du nichts … ich weiß nicht, Neues?« Lily verzog das Gesicht, während sie die Listen des Players durchklickte. »Oder was cooles Altes?«
»Zum Beispiel?«
»Das weiß ich, wenn ich es höre.«
»Du hörst nichts, du liest nur.«
Lily spielte weiter am Player und machte ein Geräusch, als hätte sie in einen Hundehaufen gegriffen.
Anais erhaschte einen Blick aufs Display und lächelte. »Stop! Nimm das Nächste.«
Lily betrachtete den Namen, zuckte die Achseln und drückte auf Play. Aus den Lautsprechern erklang rhythmisches Trommeln, ziemlich tribal , dann eine klare Frauenstimme. Do You Remember von Ane Brun.
Zum Erstaunen ihrer Mutter sagte Lily nach einem Moment: »Ist ganz okay.«
Anais grinste.
Lily hob eine Braue. » Nur okay.«
»Schon klar.«
Wenn ihnen Fahrzeuge entgegenkamen, zersplitterte das Scheinwerferlicht auf den Scheiben zu funkelnden Mosaiken. Die Straße führte am Flussufer entlang, am Fuß der Weinberge, vorbei an den Mündungen bewaldeter Seitentäler. Die meisten Hänge waren zu Terrassen gestuft und sahen aus wie Berge einer Märklinlandschaft. Durch die nassen Scheiben wirkten sie noch unechter. Das Laub färbte sich bereits rot und gelb, aber ohne Sonnenschein fehlte ihm das herbstliche Leuchten.
»Leben da noch Leute, die du von früher kennst?«, fragte
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