Klammroth: Roman (German Edition)
Fleisch ignoriert und ausdruckslos begonnen, einzelne Knochen mit einer kleinen Bürste zu reinigen. Sechs Stunden lang hatte sie das getan, auf die Minute genau. Sie hatte nicht ein einziges Mal ihre Mimik verändert und Knochen um Knochen vom Fleisch befreit, während ihre aufgezeichnete Stimme aus Lautsprechern Passagen des neuen Romans verlas, aus Serpentinas Haut , laut genug, um die halbe Straße damit zu beschallen.
Um sechzehn Uhr hatte sie das Schaufenster verlassen, im Hinterzimmer geduscht und war, wieder im Mantel, hinaus auf die Straße getreten. Unter Applaus und vereinzelten Pfiffen hatte sie Bücher signiert, kurze Interviews gegeben und aller Welt den Anschein vermittelt, dass nichts, aber auch gar nichts Ungewöhnliches war an einer Frau, die gerade sechs Stunden lang nackt in einem stinkenden Beinhaus gehockt und Knochen mit einer Zahnbürste gesäubert hatte.
4
»Da vorn ist die Brücke«, sagte sie. »Wir sind gleich da.«
Anais’ Blick streifte ihr eigenes halbes Gesicht im Rückspiegel, und sie hatte das Gefühl, dass die andere Hälfte außerhalb des Spiegels womöglich nicht dazu passte. Manchmal tat es gut, nur einen Teil von sich wahrzunehmen. Was sie sah: ein großes dunkles Auge, eine blasse Wange und Schläfe, darüber kurzes schwarzes Haar. Nach dem Auftritt in Amsterdam und der Fahrt hierher war sie hundemüde, und das war ihr anzusehen.
Seit sie die Autobahn verlassen hatten, war die Sicht durch den Regen immer schlechter geworden. Die Herbstwälder, sonst so atemberaubend in ihrer Färbung, hatten die Tönung einer verwitterten Deutschlandflagge an einem Balkongeländer angenommen: ausgebleicht, an den Rändern zerfasert, mit diesem Beigeschmack von etwas, das ein paar Wochen lang aufregend gewesen und dann zu einer vernebelten Erinnerung geworden war.
Die Brücke war ein schmuckloser Klotz aus Beton und Stahl, dessen breite Pfeiler erst vor fünfzehn Jahren ins Flussbett getrieben worden waren. Damals hatte man Teile der Straße vom Nord- ans Südufer verlegt, hatte die Serpentinen an den steilen Schieferhängen weggerissen und den Verkehr durchs Tal über die neue Schnellstraße parallel zum Fluss umgeleitet. Eine Weile hatte man in Klammroth geglaubt, das würde die Touristen zurück in den Ort bringen, die Weinreisenden, Wochenendausflügler und – um Himmels willen – die spendablen Kegelclubs. Doch die Blütezeit des Weintourismus’ war schon seit Jahrzehnten vorüber,und durch die neue Straßenführung lag Klammroth nicht einmal mehr auf dem Weg der Durchreisenden. Der Hauptverkehr raste jetzt am anderen Ufer vorüber, während der Ort auf der Nordseite des Flusses dem endgültigen Vergessen entgegenschlief.
Anais bog von der Schnellstraße nach links auf die Brücke. Klammroth wäre selbst bei gutem Wetter von hier aus noch nicht zu sehen gewesen, weil der Fluss gleich hinter dem Übergang eine Biegung machte. Sie würden noch ein Stück am Nordufer entlang nach Osten fahren müssen, ehe sie die Stadt erreichten. Anais’ letzter Besuch lag ein Dreivierteljahr zurück, eine ihrer sporadischen Visiten im Heim, um pflichtschuldig ein, zwei schweigsame Stunden mit ihrem Vater zu verbringen. Seit Jahren gab er vor, ihre Anwesenheit nicht wahrzunehmen. Warum aber rief er sie dann so oft mitten in der Nacht an und wisperte mysteriöse Andeutungen ins Telefon?
Und nun war Theodora tot, ihre Stiefmutter, seine zweite Frau, die bereits in Trennung von ihm gelebt hatte, ehe er sein Pflegebett im Heim bezogen hatte. Sie war gut zwanzig Jahre jünger gewesen als er, Mitte fünfzig. Sie und Anais hatten einander vom ersten Tag an nicht gemocht, und ihr unverhoffter Tod machte sie auch im Rückblick nicht liebenswerter. Zudem brachte er es mit sich, dass Anais nun die Vormundschaft für ihren Vater innehatte, und sie war noch nicht sicher, was das für sie bedeutete. Wahrscheinlich würde sie öfter herkommen müssen. Die Vorstellung allein erfüllte sie mit einem solchen Widerwillen, dass sie seit Stunden unter Bauchschmerzen litt.
Fest stand, dass sie sich um das abgebrannte Haus kümmern musste, in dem Theodora ums Leben gekommen war. Es gehörte nun Anais, und es gab nichts in ihrem Leben,worauf sie lieber verzichtet hätte. Sie hoffte, dass die Bagger, die in den nächsten Tagen den Berg heraufrollen würden, auch ihre Erinnerungen fortschaufelten.
Lily beobachtete sie skeptisch von der Seite. »Du hasst es so sehr, hier zu sein.« Es war nicht mal eine
Weitere Kostenlose Bücher