Klammroth: Roman (German Edition)
daran. Obgleich sie sich geschworen hatte, sich nie wieder davon einschüchtern zu lassen, schnürte das Wissen um seine Nähe ihr für einen Moment den Atem ab. Sie tat, als hätte sie sich verschluckt, und hustete, damit Lily nicht bemerkte, was dieser Ort mit ihr anstellte.
Ohne nachzudenken, bremste sie den Wagen am Ende der Brücke ab und lenkte ihn auf einen breiten Schotterstreifen. An seinem Rand ließ sich noch vage erkennen, wo einst die Straße in den Wald geführt hatte. Die Bäume, die dort vor anderthalb Jahrzehnten gepflanzt worden waren, waren kleiner und schmaler als die übrigen. Anais fragte sich, ob im Unterholz noch Reste des alten Straßenbelags existierten, geborstener Asphalt, durch dessen Spalten die Wurzeln wie Würmer durch einen Kadaver krochen.
»Was nun?«, fragte Lily.
»Wir vertreten uns die Füße.«
Lily riss die Augen auf, als hätte Anais von ihr verlangt, bei ihrer nächsten Performance nackt neben ihr im Schaufenster zu tanzen. »Drei Minuten, bevor wir ankommen?«
»Warum nicht?«
»Fuck. Du willst da hoch! Zum Tunnel!«
»Was ist nur aus so schönen deutschen Schimpfwörtern wie Scheiße geworden?« Anais hätte sich beinahe zu ihr rübergebeugt und ihr einen Kuss auf die Wange gegeben. Aber ihre eigene Pubertät lag noch nicht lange genug zurück, um nicht mehr zu wissen, wie sie sich anstelle ihrer Tochter gefühlt hätte.
»Du willst das wirklich, oder?«, fragte Lily, als Anais den Motor abstellte.
Das Nicken fiel ihr schwer. Lily hatte nur eine ungefähre Ahnung von dem, was vor siebzehn Jahren dort oben geschehen war, und Anais hatte bis heute nie einen Anlass gesehen, ihr mehr darüber zu erzählen. Es hatte einen Unfall gegeben, vier Schulbusse waren kurz nach der Abfahrt zu einem Ausflug im Tunnel ineinandergefahren; viele Kinder waren ums Leben gekommen, andere schwer verletzt worden. Anais gehörte zu jenen, die Glück gehabt hatten, auch wenn Lily sich kaum vorstellen konnte, dass es irgendwen schlimmer getroffen hatte als sie. Das war eine behütete und – auch mit vierzehn – ein wenig kindliche Sicht der Dinge, und bislang hatte Anais daran nichts ändern wollen. Dies hier war ihre Vergangenheit, ihr Schicksal, und es wäre falsch gewesen, Lily mit den Einzelheiten zu belasten.
Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie ihre Tochter nicht lieber zur Pension bringen und später allein hierher zurückkehren sollte. Aber da zupfte Lily sich schon die Wollmütze zurecht, sprang ins Freie und fluchte, als sie mit ihren Chucks in eine Pfütze trat.
»Du kaufst mir neue Schuhe, wenn ich meine da oben einsaue.« Als sie sich wieder zur Beifahrertür hereinbeugte, sah ihr Lächeln sehr süß aus und ließ keinen Zweifel daran, wie ernst sie das meinte.
Anais stieg aus und blickte über das Autodach zu Lily hinüber. Die Nässe perlte auf dem Lack und schimmerte trübe im Nachmittagslicht. »Versprochen.«
Insgeheim ahnte sie, dass sie den Weg dort hinauf niemals allein bewältigt hätte, aber dass er sich mit Lily an ihrer Seite kaum mühsamer als ein Spaziergang anfühlen würde. Mit einem Mal war sie ungeheuer dankbar, dass ihre Tochter bei ihr war, ausgerechnet jetzt, ausgerechnet hier.
»Hast du ’ne Taschenlampe?«, fragte Lily.
»Wir gehen nicht in den Tunnel.«
»Wenn wir doch schon mal da sind.«
»Schlag dir das aus dem Kopf.«
»Mein Handy hat ’ne Lampe.«
»Die wirst du nicht brauchen.«
Lily strahlte. »Ich bin wie Tick, Trick und Track. Im Notfall hab ich alles dabei.« Sie war furchtbar hübsch, erst recht jetzt, da sie allmählich erwachsen wurde. Sie hatte den dünnen, schlaksigen Körperbau der meisten Mädchen in ihrem Alter und war noch ein klein wenig pausbäckig, die allerletzten Reste des Babyspecks. Sie strahlte diese rotwangige Gesundheit aus, die stets ein wenig frech und rotznäsig wirkte und mit der sie zweifellos eine Menge pickliger Jungs um den Verstand brachte. Anais war ganz froh, dass sie nicht genau wusste, womit Phil sich tagtäglich herumschlagen musste, und sie befürchtete, dass es in den nächsten drei, vier Jahren mit Lily nicht einfacher werden würde. Zugleich bedauerte sie, dass sie so vieles verpassen würde, all die kleinen Dramen, Siege und Niederlagen, aus denen sich ein Teenagerleben zusammensetzte.
»Ich will nur mal nachschauen, wie es jetzt da oben aussieht«, sagte sie. »Das ist alles.«
»Und falls die Tür gerade ein klitzekleines Stückchen offen steht, dann …«
»Keine
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