Klammroth: Roman (German Edition)
Frage.
»Sieht man mir das so deutlich an?«
Ihre Tochter zuckte die Achseln. »War sie wirklich so schlimm? Deine Stiefmutter, meine ich.«
»Ach, schlimm …« Anais versuchte, sich an Theodoras Gesicht zu erinnern, aber nicht einmal das gelang ihr überzeugend. »Eigentlich kannte ich sie kaum.«
Sie war eine große, dunkelhaarige Frau gewesen, einschüchternd mit ihrer tiefen Stimme und dem bohrenden Blick; klug, gebildet, wohlhabend, und sie hatte ihren Professorentitel wie eine Monstranz vor sich her getragen. Theodora war kurz nach dem Unfall aufgetaucht, war wie ein Raubvogel auf das Nest des Bürgermeisters und Schuldirektors – Anais’ Vater – herabgestoßen und hatte sich rücksichtslos darin breitgemacht. Da hatte es sich gut getroffen, dass Anais schon bald ins Internat nach Süddeutschland verschwunden war und das Feld nicht nur kampflos, sondern fluchtartig geräumt hatte.
»Schlimm …«, sagte sie noch einmal. »Ich weiß nicht, ob es das trifft. Sie ist damals aus dem Nichts gekommen und hat wie eine Lawine alles niedergewalzt, was ihr im Weg stand.«
»Aber als Opa ins Heim kam, waren er und sie schon wieder getrennt, oder?«
»Schon ein paar Jahre.«
»Warum war sie im Haus, als es gebrannt hat? Es stand doch leer.«
»Das hat dieser Polizist am Telefon auch gefragt. Ich habkeine Ahnung. Vielleicht wollte sie einen neuen Versuch machen, den Kasten zu verkaufen. Es war ja längst an der Zeit dafür.« Tatsächlich hatte es früher schon Bestrebungen gegeben, ihr Elternhaus zu veräußern, aber die wenigen Angebote waren Theodora zu niedrig gewesen. Klar, das Grundstück lag oberhalb der Weinberge mit spektakulärem Blick aufs Flusstal, aber solche Immobilien waren in dieser Gegend keine Seltenheit. Was Theodora nicht hatte sehen wollen war die verkommene Bausubstanz. Das Haus war in den Fünfzigern errichtet worden, und nach all den Jahrzehnten war einfach alles daran veraltet gewesen. Interessenten hatten es stets nur auf das Grundstück abgesehen; entsprechend waren ihre Preisvorstellungen. Theodora aber, die durch ihre Klinik zu einer reichen Frau geworden war, hatte das Haus lieber verfallen lassen, als es – ihrer Meinung nach – unter Wert zu verkaufen.
Das Feuer war am Abend vor drei Tagen ausgebrochen, und nun interessierte es die Ermittler außerordentlich, warum sich eine Frau in dem Haus aufgehalten hatte, die erstens seit Jahren nicht mehr dort wohnte und zweitens keine Zeit mehr gehabt hatte, hinaus ins Freie zu laufen. Menschen starben in brennenden Häusern, wenn sie im Schlaf überrascht wurden, aber nicht, wenn sie mal eben nach dem Rechten sahen.
»Vielleicht hat sie die Bude ja selbst abgefackelt«, sagte Lily. »Kohle von der Versicherung und so.«
»Aber das wäre wirklich die langweiligste aller Möglichkeiten, oder?« Tatsächlich lag der Gedanke auf der Hand, allerdings eben nur, wenn man Theodora und ihren Hintergrund nicht kannte. Es hieß, sie habe in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten ein Vermögen verdient, und selbst wenn man alle Übertreibungen abzog, blieb genug, um einen plumpen Versicherungsbetrug auszuschließen. Theodora hatte für ihre Klinik gelebt. Um nichts in der Welt hätte sie das Institut für ein so absurdes Verbrechen aufs Spiel gesetzt.
»Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie sie bei Nacht mit einem Benzinkanister durch leerstehende Häuser schleicht«, sagte Anais. Das klang nach gutmütiger Gaunerei aus dem Vorabendkrimi und nicht nach etwas, zu dem sich Professorin Theodora Schwarz je herabgelassen hätte.
Lily sah verkniffen hinüber zum Nordufer. Sie befanden sich in der Mitte der Brücke, das einzige Fahrzeug weit und breit. Im selben Augenblick verstummte das Prasseln auf der Scheibe, der Regen ließ schlagartig nach. Die Wischer brauchten noch zwei, drei Schwenks, dann war die Sicht nach vorn wieder klar. Anais bemerkte, wie hoch der Pegel des Flusses und wie stark seine Strömung war. Im Radio war die Rede von Hochwasser am Rhein gewesen, und es war nicht abwegig anzunehmen, dass das auch für seine schmaleren Nebenflüsse galt.
Am Ende der Brücke machte die Fahrbahn einen scharfen Knick nach rechts und ging in die alte Uferstrecke über. Die gewundene Straße zum Tunnel war verschwunden, als hätten die Serpentinen den Hang hinauf niemals existiert.
Aber er war noch immer dort oben, gar nicht weit entfernt, verborgen unter dem Herbstlaub des Waldes. Anais fröstelte beim Gedanken
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