Klammroth: Roman (German Edition)
Chance. Außerdem haben sie den Tunnel verbarrikadiert.«
Dass man ihn nicht gesprengt hatte, hatte für großen Unmut unter den Einwohnern Klammroths gesorgt. Nach der Katastrophe hatte es große Bemühungen gegeben, die Straße verschwinden zu lassen und den Verkehr auf die andere Flussseite umzuleiten, und viele hatten nicht nachvollziehen können, warum ausgerechnet der Tunnel selbst erhalten bleiben sollte.
Anais holte die Jacken aus dem Kofferraum und blickte den Berg hinauf. Die Regenwolken hingen noch immer grau und schwer am Himmel. Sie hoffte nur, dass es keine Schlammlawine geben würde; an den steilen Hängen kam das gelegentlich vor.
Lily war die paar Schritte zurück zur Brücke gegangen und blickte zum Fluss hinunter. Das Wasser raste mit ungeheurem Getöse Richtung Klammroth und weiter nach Osten zur Mündung in den Rhein. »Das hat einen Affenzahn drauf«, sagte sie, als Anais neben sie trat und ihr die Jacke um die Schultern legte. »Glaubst du, im Ort wird es Hochwasser geben?«
»Wäre nicht das erste Mal.«
»Ich weiß noch, wie wir mal mit einem Boot durch die Straßen gerudert sind. Da war ich noch klein, in der Grundschule oder so.«
»Selbst wenn es dazu kommt – wir werden’s nicht erleben, weil wir so lange nicht bleiben. Spätestens übermorgen will ich alles geregelt haben, und dann sind wir hier weg.«
Lily schenkte ihr einen abgeklärten Blick aus ihren braunen Augen. In solchen Momenten wurde Anais Lilys Ähnlichkeit mit Phil fast schmerzhaft bewusst.
»Gehen wir, bevor es wieder regnet«, sagte sie.
Da beugte Lily sich herüber und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich bin bei dir, okay? Kein Grund, vor diesem Loch im Berg da oben Angst zu haben.«
Anais versuchte zu lächeln, dann nahm sie Lily bei der Hand und lief mit ihr zum Waldrand.
5
Der Mann, dessen Wagen keine fünfzig Meter entfernt am Straßenrand parkte, sah die Frau mit dem kurzen dunklen Haar zwischen den Bäumen verschwinden. Er saß da und dachte nach.
Er konnte aussteigen, konnte ihr folgen.
Er konnte auch abwarten.
Es war keine Überraschung, dass sie nach Klammroth kam, nicht nach allem, was zuletzt geschehen war. Nicht wenige sprachen darüber, spekulierten, fragten sich, was sie tun würde. Welche Entscheidungen würde sie treffen?
Viele sprachen mit Missbilligung von ihr, einige mit Abneigung, ein paar voller Hass.
Der Mann im Wagen hatte ihnen zugehört, gestern und vorgestern, und hatte selbst kein Wort gesagt. Hatte sich Gedanken darüber gemacht, ob sie ein Risiko darstellte. Ob ihr Kommen alles verändern könnte.
Besser, jemand hätte sie gewarnt. Oder ihr Angst gemacht.
Besser, sie wäre fortgeblieben.
Er hatte Schmerzen, so wie sie alle. Es gab keinen Tag, an dem die Verbrennungen ihn nicht quälten. Es begann wie ein Kitzeln und endete in Qual. In den Nächten erwachte er manchmal von seinen eigenen Schreien.
Starr blickte er zu dem verlassenen Fahrzeug hinüber.
6
Es gab mehr Schatten als Bäume in diesem Wald, so war es schon immer gewesen. Graue Formen mit spindeldürren Gliedern huschten von Stamm zu Stamm, Zwischenräume aus Zwielicht, die für Augenblicke zum Leben erwachten, zuckten und zitterten und wieder mit der Umgebung verschmolzen.
Das Unterholz hatte das Terrain der ehemaligen Straße mit Gewalt zurückerobert. Der Asphalt war verschwunden, Gräser und Moose wucherten, wo sich einst die Fahrbahn in engen Kurven den Hang hinaufgewunden hatte. Nachdem die Arbeiter mit ihren Presslufthämmern abgezogen waren und die Trümmer mitgenommen hatten, war die Schneise aufgeforstet und sich selbst überlassen worden. Regenwasser rann in Fäden von sterbendem Laub und webte Glitzernetze vor Grotten aus verschlungenem Astwerk.
Anais und Lily stiegen erst auf der kürzesten Route den Berg hinauf, entschieden dann aber, den Biegungen der einstigen Serpentinen zu folgen. Das machte die Strecke länger, ersparte ihnen aber die Kletterei an den steilen Stellen zwischen den Kurven.
Anais hatte erwartet, dass sie die Umgebung früh genug erkennen und vorgewarnt sein würde, wie bei einem unliebsamen Bekannten, den man gerade noch rechtzeitig entdeckte, um einer Begegnung aus dem Weg zu gehen. Doch dann standen sie und der Tunnel sich ganz unvermittelt gegenüber, und der Stille im Wald nach zu urteilen, hatte auch er sie entdeckt und hielt in Erwartung den Atem an.
»Ich hab ihn mir größer vorgestellt«, sagte Lily und lief unbekümmert weiter.
Anais rührte sich nicht
Weitere Kostenlose Bücher