Klar sehen und doch hoffen
Lebens, um ein Lebensgleichgewicht zwischen Ökologie und Ökonomie, um die Energie der Zukunft und um die Notwendigkeiten sachgerechter Informationen.
Kurz vor der Schlussabstimmung war Bischof Hempel noch zu den Funktionären zitiert worden. Von den dort ausgesprochenen Drohungen berichtete er ganz offen im Plenum. Genau das führte zu noch größerer Einmütigkeit. Aber über einige Fragen konnten wir uns nicht einigen. Eine Delegierte kam auf die grandiose Idee, einfach offene Fragen zu benennen, die in den Gemeinden und in der Gesellschaft weiterer Diskussion, Erörterung und Meinungsbildung bedürften. Dies erwies sich als ein genialer Vorschlag. Es waren Fragen, die im Herbst 1989 in den Dialogforen und an Runden Tischen diskutiert wurden. Da hieß es z. B.:
– Welchen Beitrag kann ein sozialistisches Gesellschafts und Wirtschaftssystem zu Überlebensfragen der Menschheit leisten?
– Wie können wir zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft kommen?
– Wie stehen wir zum geschichtlichen Weg unseres Landes? – Womit können wir uns identifizieren?
– Wo müssen Fragen gestellt werden?
Ich meldete mich und bat, Fragen einzufügen, die bisher nicht öffentlich diskutiert worden waren. Ich war perplex, als dies ohne jede Diskussion zur Abstimmung vorgelegt und mit großer Mehrheit beschlossen wurde. Meine drei Fragen lauteten:
– Was heißt es, Deutscher in der DDR zu sein?
– Wie arbeiten wir unsere Identitätsprobleme auf?
– Wie kann auch die nationale Frage im europäischen Friedensprozess geklärt werden?
Mir war es darum gegangen, mich als ein Deutscher in der DDR zu verstehen und die Fragen nach nationaler Identität endlich aufzugreifen. War ich denn kein Deutscher, sondern ein eingemauerter »DDR-Bürger«? Wir hatten plötzlich alle miteinander ein Tabu gebrochen, das wir in den Diskussionen zuvor bewusst oder unbewusst kaum berührt hatten. Einzig Richard Schröder hatte das zuvor angesprochen.
In meiner Gottesdienstmeditation zum Abschluss in der Kreuzkirche zu Psalm 33 sprach ich die Hoffnung aus, dass sich mehr Menschen unseren Erkenntnissen anschließen und Mut gewinnen aufzustehen: »Seht, wie viele mitgegangen sind! Lasst uns miteinander weitergehen, entschieden und bescheiden hoffend, dass die Hoffnung überspringt, dass sie viele Menschen beflügelt zu gemeinsamem Tun … Was wir fertiggebracht haben, ist gewiss nicht fertig. Es bleibt Stückwerk – auf der Suche nach dem Ganzen. Leben wurde in Worte gefasst, Erkenntnisse wurden in viel Papier verwandelt – nun hoffen wir, dass Papiere wieder in Leben verwandelt werden … Gott sammelt in Kammern die Fluten der Angst. Er hat in seiner Schöpfung Dämme gegen das Verderben gebaut.«
Ich konnte es damals kaum fassen, was uns in Dresden ökumenisch gelungen war. Ich habe bewundert, wie Renate und Reinhard Höppner in Magdeburg, Annemarie Müller in Dresden und andere in den Wochen zuvor die vielen Hundert Eingaben bearbeitet und eingearbeitet hatten. Der Dresdner Superintendent Christof Ziemer erwies sich als außerordentlich begabter Leiter der Ökumenischen Versammlung,die kein Vorbild gehabt hatte, an dem man sich hätte irgendwie orientieren können. Ihm wuchs eine einfach großartige, so ruhige wie engagierte Gesamtleitung zu. Nicht zuletzt seiner aus jahrelanger Tätigkeit als Pfarrer an der Kreuzkirche erwachsenen Autorität war es in den dramatischen Tagen vom 1. bis 8. Oktober 1989 zu verdanken, dass es nach bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen in Dresden zur gewaltlosen Verständigung gekommen war. Das nannten wir später friedliche Revolution.
Der Initiative und dem beharrlichen Drängen von Basisgruppen, die mit den kirchlichen Gremien zusammenfanden, ist es schließlich zu verdanken, dass Christen das wurden, was Jesus ihnen zugesprochen hatte: Salz, Licht und Sauerteig zu sein. Fast überall waren es kirchennahe oder kirchliche Vertreter, die das Wort in jenen dramatischen sechs Wochen von Ende September bis zum 9. November ergriffen. Christen und Kirchen wurden Geburtshelfer. Eine entschlossene und zugleich besonnene Minderheit entwickelte eine erstaunliche Kraft. Eine Hoffnung lernte gehen. Unsere damaligen Erwartungen für Freiheit, bürgerliche Menschenrechte und demokratische Mitwirkung hatten sich 1989/90 erfüllt. Sehr viele bis dahin apathische Menschen wurden bereit, sich für das Gemeinwohl zu engagieren.
Gegenwärtig ist unsere Demokratie in einem gefährlichen
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