Klar sehen und doch hoffen
Selbstwertgefälle gebe, an dem zu arbeiten sei. Ich wünschte mir zunächst »eine Wohnung im europäischen Haus mit Schiebetüren«. Die Mentalitäten, die Lebensbedingungen, die Rechtssysteme, die Gewohnheiten, die Einstellungen, ja die Wortbedeutungen zwischen Ost- und Westgesellschaft lägen doch so weit auseinander, dass ein allmähliches Zusammenkommen für beide beteiligten Seiten sinnvoll sei. Sorge trieb mich um, dass bei einem Ringen um die Freiheit die Einheit plötzlich in den Vordergrund träte und sofort densowjetischen Sicherheits- und Machtapparat auf den Plan rufen würde. Die DDR war in der Tat Klammer und Faustpfand des Ostblocks. Die Mauer ansehend, entfuhr es mir: »Beton platzt von innen!« Aber zunächst ist er hart, undurchdringlich, tot, abweisend. Und es kann schon für den einzelnen Menschen eine Unendlichkeit dauern, ehe er bröckelt.
Noch nahm ich keine Anzeichen eines demokratischen Aufbruchs wahr, aber vertraute darauf, dass das System von innen überwunden, von uns Bürgern selbst demokratisiert werden könne und wir die Freiheit in Frieden erreichen würden, um dann im Zusammenklang zwischen deutscher Einheit und europäischer Einigung eine eher mittelfristige Perspektive zu gewinnen.
Neben Rita Süssmuth auf dem Hearing »Zweimal vierzig Jahre« mit Teilnehmern aus beiden deutschen Staaten auf dem 23. Evangelischen Kirchentag in Westberlin, 8. Juni 1989
DER HERBST DER ENTSCHEIDUNG
Für den 21. / 22. August 1989 hatten die Initiatoren des Demokratischen Aufbruchs eine Klausur verabredet, die in der Wohnung eines Dresdner Pfarrers stattfinden sollte, weil wir vermuteten, dass die Räume in unseren Heimatorten abgehört würden. Dass der Abhörer unter uns saß und jeden Abend ausführlich Auskunft gegeben hatte unter einem seiner Decknamen – als Dr. Schirmer – ahnten wir nicht. Es war Wolfgang Schnur.
Wenige Tage zuvor hatte ich Siggi Schefke und Aram Radomski ein Interview im Luthergarten gegeben. Die beiden waren mit einer Videokamera gekommen, die ihnen Roland Jahn besorgt hatte. Diesem hatte ich auf dem Kirchentag im Juni gesagt, das Fernsehen möge mehr Leute aus dem Osten selber zu Wort kommen lassen, weil westliche Stimmen über den Osten immer ganz knapp daneben lägen. Also musste ich Ja sagen, unsicher, ob die beiden wirklich unbehelligt mit ihrer Kamera den Garten wieder verlassen könnten.
Als ich in Dresden erzählte, dass ich konspirativ ein Interview gegeben hätte, waren meine Mitstreiter entsetzt: Das dürfe ich doch jetzt nicht machen, hier würde eine Spur zu uns gelegt, das würde kontraproduktiv wirken, weil der von der SED-Propaganda her bekannte Reflex zu befürchten sei, alles wäre durch den Westen gesteuert und würde über den Westen propagandistisch in den Osten gesendet. Ich wandte ein, dass ich doch endlich selber sagen wolle, was ist.
Neben der Weiterarbeit an unserem Programm verabredeten wir, alle uns bekannten kleinen Oppositionsgruppen und Einzelpersonen zusammenzurufen – und zwar keinesfalls über Post oder Telefon. Wir wollten zum Erntedanksonntag, dem 1. Oktober, Vertreter aller oppositionellen Strömungen zu einem Treffen nach Berlin einladen, um eine DDR-weiteOpposition zu formieren. Wir ahnten nicht, dass zu jener Zeit bereits an mehreren Orten Gruppen zusammensaßen, die jeweils ein Programm ausarbeiteten. Alphafiguren gab es überall. Ich wusste nicht, dass in Berlin erhebliche Rivalitäten herrschten, etwa zwischen Bärbel Bohley und Rainer Eppelmann. Ich hatte sie noch einträchtig bei einem Podiumsgespräch über das SED-SPD-Papier in der Samaritergemeinde im April 1989 erlebt. Da die SED dazu keinen Vertreter geschickt hatte, verabredeten Eppelmann und ich in der Samariter-Gemeinde-Küche, dass wir nun in die organisierte Opposition gehen würden. Dialog schien uns fortan ausgeschlossen. Eine äußerst angespannte Atmosphäre lag über dem Land.
Am 30. August 1989 wurden Auszüge aus jenem Garteninterview in einer Kennzeichen D-Sendung gesendet. Danach begann für mich die psychisch belastendste Zeit. Ich bekam ständig drohende und schmähende Anrufe, bis hin zur Warnung, nicht nach Berlin zu fahren: Es sei gefährlich im Straßenverkehr. Ich war in jenen Tagen auf Gefängnisgitter eingestellt, ganz und gar nicht auf das Erlebnis von Befreiung. Nicht nur ich, viele andere waren bereit gewesen, jetzt aufs Ganze zu gehen. Wir hatten von Lagern gehört, ohne Näheres zu wissen. Es gibt einen Punkt, an dem es die menschliche
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