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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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Lähmungszustand. Umso erfreulicher ist es, wenn Menschen sich gegen problematische Großprojekte engagieren, entschlossen und gewaltlos, ob gegen die Waldschlösschen-Brücke in Dresden, gegen Stuttgart 21, Flughafen-Mega-Projekte oder die Übermacht der Banken. Erst wenn das Mehrheitsbewusstsein dem menschlichen Handeln zukunftsverträgliche Grenzen setzt, wird dies auch zum Umsteuern führen. Umkehr braucht Umdenken.
    Für die er^ste Ökumenische Versammlung in Dresden habe ich am 13. Februar 1988 ein Gebet formuliert und gesprochen:

    Herr, erbarme Dich.
Wir wissen, was wir tun.
Aber wir wissen nicht,
was wir tun können.
Herr, erbarme Dich.
Gib uns Mut zur schmerzlichen Wahrheit
und gib uns die Erkenntnis der
lösenden und erlösenden Wahrheit.
Hilf uns,
Verborgenes ans Licht zu bringen
Verschwiegenes auszusprechen,
Vergessenes wiederzuentdecken
Verlorenes wiederzufinden,
Bewährtes zu bewahren und
Neues zu probieren.
Herr, erbarme Dich.
Lass uns sanftmütiger sein,
gegenüber aller Natur und Kreatur.
Lass uns barmherziger sein
gegenüber allem Leid und allen Leidenden.
Lass uns friedfertiger sein
gegenüber Nahen und Fernen,
gegenüber Freunden und Feinden.
Herr, erbarme Dich.
Ermutige uns zu schöpferischem Zweifel
und bewahre uns vor lähmender Verzweiflung.
Gib uns Zuversicht und lass uns
nicht verzweifeln an dem,
was wir noch nicht sehen.
BETON PLATZT VON INNEN
    Grau, nichts als grau war die dominierende Farbe in der DDR. Bevorzugter Baustoff allüberall: grauer Beton, ob Halle-Silberhöhe, Leipzig-Grünau oder Berlin-Marzahn. Plattenbauten der Arbeiterklasse, während die alten Städte gnadenlos verfielen. Die tot-graue Mauer avancierte zum Kennzeichnen der DDR schlechthin. Von 1961 bis 1989 musste sie dreimal neu hochgezogen werden. 1989 war sie wieder von innen her am Zerplatzen. Es war eine Mischung aus Zorn und Übermut, als ich der »Westpresse« in Gestalt der »Frankfurter Rundschau« ein Interview gegeben hatte und prophezeite, dass Beton von innen platzt. Das war im Juni 1989, einige Tage nach der blutigen Niederschlagung der chinesischen Demokratie-Bewegung mit Panzern. Ich wollte endlich ohne Umschweife sagen, was ich sah, und mich nicht mehr innerer Zensur unterwerfen, der Angst ihre Aura nehmen, damit sie nicht weiter den Atem nimmt. Atemfreiheit gegen Atemnot. Redefreiheit gegen Schweigegebot. Denken, das zum Sagen wird. Auf die Stimme der Einsicht, nicht auf die der Vorsicht hören. Ich meinte das Platzen von innen bildlich-politisch, aber auch ganz buchstäblich-gegenständlich. Schließlich hatte die inzwischen dritte Mauerstaffel tatsächlich schon wieder zu bröckeln begonnen, die Stahlstreben rosteten, das Wasser drang durch die Ritzen, und Frost ließ den Beton abplatzen. Das konnten die Mauerspechte nach dem 9. November 1989 ganz gut nutzen. Durch Gitterstäbe sahen sich die Befreiten aus Ost und West an. Mauersplitter als Reliquien des grauen Grauens …
    Die Berliner Mauer war durch Entspannungspolitik zwar niedriger und durchlässiger geworden, aber noch im Februar wurde Chris Gueffroy rücklings erschossen. Und auch ich hatte nicht aufgeschrien.
    Ziemliche Wut bekam ich, als der Außenminister der DDR Oskar Fischer auch noch erklärt hatte, die Mauer sei eine »tragende Wand des europäischen Hauses«. Ich wollte vielmehr einen Staat mit aufbauen, der keiner Mauer mehr bedarf. Also musste er grundlegend umgestaltet werden. Von uns. Von innen.
    Im Juni 1989 konnte ich erstmalig an einem (West-)Kirchentag teilnehmen. Zum Abschluss eines großen deutschdeutschen Forums erwähnte Heinrich Albertz den ihn beeindruckenden Mut der Redner aus der DDR. Ja, wir hatten uns buchstäblich von unserer Angst freigeredet. Konrad Weiß sprach ein absolutes Tabu an: rechtsradikale Tendenzen und ihre Ursachen in der DDR. Almuth Berger beklagte einerseits die Ausreisewelle und andererseits die Ohnmachtserfahrungen und das Unmündiggehaltenwerden. Vera Wollenberger – in England lebend – hielt damals noch einen erneuerten Sozialismus für möglich und erstrebenswert. Ich sprach über die Mauer als Wunde und die politische Veränderung in der DDR durch uns selbst. 35 Wir wollten alle zurück in die DDR – wegen der Aufgaben, die wir noch zu erledigen hatten, mit offenem Ausgang, wenige Tage nach den Panzern auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Mir war es damals wichtig, die westdeutschen Zuhörer darauf hinzuweisen, dass es neben dem ökonomischen Gefälle zwischen Ost und West auch ein

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