Klar sehen und doch hoffen
DDR, zur Militarisierung in der Gesellschaft oder zum kranken Zustand unserer ganzen Gesellschaft.
Der Psychiater Ludwig Drees aus Stendal sagte u. a.: »Wir sprechen über Veränderung, aber ändern nichts. Wir handeln ständig wider besseres Wissen. Wir werden abgebrüht. Das Grauen schleift sich ab. Sind wir noch wirklich betroffen? Die Versammlung soll nicht verleugnen, dass dieses Land … an schweren Störungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens leidet … Die Symptome sind Einengung, politische Unmündigkeit der Bürger, Verschweigen der wirklichen Probleme und Unterdrückung wesentlicher Menschenrechte.«
Wir zogen am Abend des 13. Februar 1988 mit Kerzen von der Versöhnungskirche zur Ruine der Frauenkirche. Dort zogeine Gruppe von »Ausreisern« mit ihren Plakaten alle Aufmerksamkeit für das Menschenrecht auf ihre Ausreise auf sich. Unser stilles Friedensgebet zum Tage des Bombardements auf Dresden wurde übertönt. Unsere vermittelnden Gespräche mit staatlichen Vertretern hatten nach den Festnahmen im Januar 1988 noch zur Deeskalation beitragen können. Nichtsdestotrotz beschimpften viele die Kirchen, dass sie sich nicht konsequent genug für die Bürgerrechte eingesetzt hätten.
Die zweite Session fand im Oktober 1988 im Remter des Magdeburger Doms statt. Dort lagen einige Textentwürfe vor, in die wiederum sehr viele Eingaben, Vorschläge und Anregungen aus der ganzen DDR eingearbeitet wurden. Dabei stellte sich heraus, dass von besonderer Brisanz die Frage nach der »Gerechtigkeit in der DDR« war.
In meinem Diskussionsbeitrag in Magdeburg hatte ich darauf verwiesen, dass Soldatsein im Ernstfall heißt, dass ein junger Mann permanent vor die Alternative gestellt würde, entweder zu schießen oder erschossen zu werden oder so gut zu schießen, dass er selber nicht erschossen wird. Und dann hatte ich das berühmte Gedicht von Biermann zitiert, ohne zu sagen, dass es ein Zitat von Wolf Biermann ist:
Soldat Soldat in grauer Norm
Soldat Soldat in Uniform
…
Soldaten sind sich alle gleich
Lebendig und als Leich.
Der sich für Wehrdienstverweigerer in der DDR besonders engagierende Bischof Gottfried Forck meldete sich sofort (mit dem Vorrecht der Intervention der Leitungsmitglieder der Ökumenischen Versammlung) und brach eine Lanze für diejenigen Christen, die den Wehrdienst ableisteten. Er meintetadelnd, ja empört, ich hätte die Soldaten, die zur Volksarmee gingen, diffamiert; so dürfe man die Diskussion nicht führen, gerade dann, wenn man selber für die Wehrdienstverweigerung sei. Ich konnte mich dazu nicht mehr öffentlich äußern und habe dieses schwerwiegende Missverständnis sehr bedauert.
Als wir im April 1989 wieder in Dresden zur 3. Session zusammenkamen (weil sich keine andere Stadt gefunden hatte, in der die Kirche es sich zutraute, den staatlichen Einwänden zu trotzen), erlebte ich eine sehr konzentrierte und auf Ergebnisse hin orientierte Debatte. Solch eine verantwortungsvolle Diskussionskultur über kontroverse Positionen wünsche ich mir heute in der Demokratie wieder.
Unter der Überschrift »Umkehr in den Schalom« erklärten wir: »Der Friede kann in unserer wechselseitig verflochtenen Welt nicht gegeneinander errüstet, sondern nur miteinander vereinbart werden, er muss also kommunikativ und kooperativ verstanden werden. Gerechtigkeit schließlich ist das gemeinschaftsgerechte Verhalten in der Überlebensgemeinschaft der Menschheit, in der auch die Rechte des Einzelnen zur Geltung kommen müssen.« 33
Wir sprachen uns für drei vorrangige Optionen aus: für die Armen, für die Gewaltfreiheit, für den Schutz und die Förderung des Lebens. Gerechtigkeit müsse »innerhalb der ökologischen Rahmenbedingungen und der Grenzen wirtschaftlichen Wachstums hergestellt werden. Die Kosten sozialer Gerechtigkeit dürfen wir nicht den Mitgeschöpfen aufladen, um uns selbst Lebensstiländerungen zu ersparen. Der neuzeitliche Weg, den Mangel durch immer extensivere und intensivere Ausbeutung der Natur und ihre totale Beherrschung zu überwinden, muss korrigiert werden. Soziale Gerechtigkeit muss durch umweltverträgliche Wirtschaft erreicht werden.« 34
Es war uns um Leben in Solidarität gegangen, um die Solidarität mit Ausländerinnen und Ausländern, um mehr Gerechtigkeit in der DDR, um ein System der gemeinsamen Sicherheit, um Alternativen zum Wehrdienst, um Friedenserziehung, um die neue Lebensweise angesichts der Ausplünderung der Ressourcen, um den Schutz ungeborenen
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