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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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Würde verlangt, aufzustehen und alles zu riskieren. Meiner Tochter hinterließ ich die Adressen und Telefonnummern der Anwälte, die sie bitte informieren sollte, wenn ich nicht zurückkäme. Es waren die Namen von Lothar de Maizière und Gregor Gysi.
    Am 4. September fuhr ich mit vier Freunden nach Leipzig, um auf Bitte der Arbeitsgruppe Umweltschutz den ursprünglich für den 17. Juni anberaumten Vortrag zu halten, der sich im Wesentlichen auf unsere 20 Wittenberger Thesen stützte und die aktuelle Diskussion einbeziehen sollte. Es hat michdamals sehr berührt, dass Freunde aus dem Gesprächskreis mitkamen, denn niemand wusste, ob wir zurückkommen würden. Deren Ehefrauen wären bereit gewesen, die Kinder auch eine Weile lang allein zu erziehen.
    Was in der DDR-Zeitung zu jener Zeit stand, deutete auf Konfrontation und Gewalt hin. Mitte September kam ein Anwalt aus Westberlin, zusammen mit Freunden aus Westend, mit denen wir seit 1983 Wochenendbegegnungen durchgeführt hatten. Er teilte mir mit, ich sei für die Verleihung der »Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte« nominiert. Vorbereitet darauf, dass ich ins Gefängnis käme, war diese Nachricht eine enorme emotionale Stärkung. Ich beschäftigte mich nun in besonderer Weise mit Ossietzky. Den Juroren teilte ich mit, es sei undenkbar, dass ich nach Westberlin kommen könnte, um die Dankesrede zu halten. Ich würde ihnen meinen Text zukommen lassen, falls ich dann noch auf freiem Fuß wäre.
    Mir wurde das Protokoll einer Sitzung der SED-Kreisleitung mit Funktionären aus dem Staatsapparat und der Wirtschaft zugespielt. Da wurde mir heiß und kalt. Das waren die üblichen Töne, wenn die kommunistische Staatsmacht zuschlug. Ob in Ungarn, in Polen, in der ČSSR oder in der DDR. Der Erste Sekretär der SED-Bezirksleitung in Halle, Böhme, hatte kolportiert, ich hätte gesagt, »die DDR ist eine hohle Nuss, die man knacken muss«. Propst Treu berichtete mir von aufgeregten Schülern, deren Lehrer erzählt hätten, ich hätte dazu aufgefordert, »Kommunisten aufzuhängen«. Er ging sofort zum Rat des Kreises und beschwerte sich. Ich wusste, was geschehen würde, wenn man solche Verleumdungen in Umlauf bringt. Dem Ersten Sekretär der SED-Kreisleitung, Horst Dübner, schrieb ich am 2. Oktober einen Brief, in dem ich klarstellte, was ich gesagt hatte und was nicht. Wieder forderte ich ein »neues Nachdenken über Reformenunter den Bedingungen der DDR« und einen gesamtgesellschaftlichen Dialog aller, »die sich diesem Land und seinen Menschen verpflichtet fühlen. … Allerdings meine ich auch, dass ›die Partei‹ nicht immer Recht haben kann. Ich gehöre in die Tradition einer Institution, die auch einmal solche Absolutheitsansprüche gestellt hat …«
    Ich erhielt keine Antwort. Horst Dübner erklärte noch am 10. Oktober 89, »dem Freunde die Hand, dem Feinde die Faust«. Dass der SED-Funktionär aber danach zu den Genossen gehörte, die im gesellschaftlichen Umbruch akzeptieren lernten, und der wollte, dass es zu keinem Chaos, zu keiner die tägliche Versorgung der Menschen bedrohenden Lage käme, ob nun im Milchladen oder im Krankenhaus, soll nicht unerwähnt bleiben.
    Der ARD-Korrespondent Claus Richter hatte mich im September während der Synode u. a. gefragt, wie die Implosion der DDR aussehen könnte. Ich antwortete: »Das wage ich mir noch nicht vorzustellen. Es könnte sein, dass Menschen sagen: ›Wir gehen jetzt auf die Straße.‹ Darauf ist unsere Regierung überhaupt nicht vorbereitet, weil der Schock vom 17. Juni 1953 offensichtlich immer noch tief sitzt, und es der Regierung nicht so richtig gelingt, das kritische Potenzial produktiv aufzunehmen. Die SED versteht alle Kritik als etwas Destabilisierendes. Ich kann nur sagen: Ich bin gegen die Destabilisierung. Aber wenn wir nicht reformieren, destabilisieren wir. Eine Reform darf nicht Chaos heißen, aber Rigidität und Starrheit führen nicht weiter. Ich würde Chaos vermeiden wollen und Starrheit! Das würde für mich Reform heißen.« Auf die abschließende Frage von Claus Richter: »Braucht das Land eine Opposition?«, antwortete ich: »Ich denke, es hat schon eine Opposition. Aber diese muss sich formieren können. Sie muss darstellen können, dass sie an der Entfaltung dieses Staates interessiert ist und den Kommunistennicht die Macht wegnehmen will, sondern die Macht geregelt teilen will.«
    Die Wut der Menschen wuchs mehr an als die Angst. Und das wurde

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