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Klar sehen und doch hoffen

Klar sehen und doch hoffen

Titel: Klar sehen und doch hoffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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habe ich gelebt und offen gesagt, nicht von oben herab, aber von oben beeinflusst: dass wir zuversichtliche, risikobereite, offene Menschen brauchen, getragen von einem Vertrauen von weit her, umfangen von einer Bindung, die aus Freiheit kommt und zu Freiheit führt. Mitten in der DDR.
    Das Wort als eine Waffe, aber nicht eine Waffe, die tötet,sondern eine Waffe, die befreiende, lebens-fördernde, los-lösende Wirkung entfaltet.
    Als Christ glaube ich natürlich auch an geheimnisvolle Fügungen im Leben, zumal ich manche selber erleben durfte. Der Bibeltext für die Reformationspredigt 1989 traf direkt ins Herz unserer Aufbruchsbewegung, gegen die Mauern im Lande und die Mauer um das Land. Wir bauten aus beschrifteten Kartons eine große Mauer und in die Mauer hinein ein Tor, aus dem der Prophet trat und den Text aus Jesaja 62 las. Da standen sie alle vor uns, die Steine, die uns im Weg gelegen hatten, die ein gelingendes Leben in der Gesellschaft verhinderten: die Angst, das Misstrauen, der Alkohol, die Stasi, die Gülle, die Rüstung, die Feindbilder …
    Wer dachte am 31. Oktober 1989 schon daran, dass zehn Tage später die echte Mauer durchbrochen würde? Wir hatten sie in der Freiheit des Wortes längst durchbrochen. 39

    Lasst Euch aufrichten!
Gehet ein, gehet ein durch die Tore!
Bereitet dem Volk den Weg!
Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg!
Richtet ein Zeichen auf für die Völker.

    Propheten, betonte ich, haben immer ein warmes Herz und einen scharfen Blick. Und ihre Worte sind beißend und befreiend. Immer geht es ihnen um die Wahrheit, die sie sagen müssen, auch wenn sie schmerzlich ist, sogar für den, der sie sagt. Die Propheten nennen auch immer die Perspektive, die Gott uns Menschen gibt. So war das damals: Die aus der Heimat Vertriebenen sehnen sich zurück nach Jerusalem. Die Zurückgebliebenen sind resigniert. Die Stadt, das Land verfällt mehr und mehr. Da tritt der Prophet auf und richtet die resignierten Menschen auf. Und ich meinte, auch wir sollten uns aufrichten lassen. Wir wollen, dass unser innen und außen verfallendesLand wieder aufgerichtet werde. Wir wollen, dass wir alle in diesem Land wieder Selbstbewusstsein und Hoffnung bekommen. Und wir haben schon etwas davon gewonnen.
    Predigt am Reformationstag 1989
    Der zweite Gedanke des Propheten: Wer arbeitet, soll auch den Lohn seiner Arbeit haben, das Nötigste, das Brot, und das Festliche, den Wein. Nicht nur sollen die Fremden, ja »unsere Feinde«, das bekommen. An diese soll nicht verschleudertwerden, was hier [in der DDR] erarbeitet wurde. Also nicht mehr die Schweine zu Dumpingpreisen in den Westen, und die Gülle bleibt bei uns. Nicht mehr Blumen, Gemüse und Pfirsiche aus den Gewächshäusern und Plantagen rund um die Stadt in die übersättigte Stadt Westberlin. Nicht mehr das Beste ins Töpfchen des Westens und das Schlechtere in das Kröpfchen des Ostens. Keine Privilegien mehr, keine japanischen Keller für die neuen »Könige«, aber auch keine westlichfürstlichen Häuser für Bischöfe auf Hiddensee. Keine Jagdreviere mehr für die hohen Herren, die doch ganz die Diener des Volkes sein wollen, und – ich darf es sagen, da es im Text um Wein geht – keinen Freyburger Wein mehr für die »Imperialisten« in den Devisenhotels, sondern in unsere Läden!
    Und: »Macht Bahn! Macht Bahn dem ganzen Volk! Macht was! Klagt nicht über die Steine, die euch im Wege liegen. Das haben wir 40 Jahre lang gemacht: geklagt. Räumt sie weg, weg die Steine, die uns im Wege liegen: Angst, Staatssicherheit, Flugasche, Städteverfall, Trägheit, Bevormundung, Massenflucht. Baut aus den Steinen, die euch im Wege liegen, nicht eine Mauer, sondern ein Tor. Wir selbst sind ja auch solche Steine, die im Wege liegen. Wir haben Steine in uns. Wir sind oft versteinert. Leugnen wir den Schatten in uns nicht. Nehmen wir das Dunkle und den Schatten in uns selbst an und bauen wir es ein, integrieren wir es, statt es zu leugnen. Ja,« betonte ich, »es ist noch viel zu tun, bis die Völker nicht mehr zu unserem Land Mauerstaat sagen, sondern sagen ›Staat der offenen Tore‹. Es ist noch viel zu tun, bis uns allen die bitteren Wahrheiten über unsere Natur und unsere Wirtschaft und über unsere Wissenschaft zugemutet werden können. Und werfen wir keine Steine auf die, die uns Steine in den Weg gelegt haben! Bauen wir miteinander Tore, durch die wir gehen können. Und lasst uns bleiben, Schwestern und Brüder, im inständigen Gebet zu Gott.

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